Sie dachten über das merkwürdige Händlerschiff nach. Ibrahim ahnte natürlich nicht, daß sie ihn durchschaut hatten, und das war für die Seewölfe immerhin ein großer Vorteil, den sie bei Gelegenheit zu nutzen gedachten.
„Heute bleiben wir hier liegen, wenn sich kein Windchen rührt“, sagte Hasard. „Aber morgen früh nehmen wir das große Boot als Vorspann und rudern nach Osten.“
Etwas später befaßte Hasard sich wieder einmal mit den geheimnisvollen Karten, doch es kam nicht viel dabei heraus.
Auf der Feluke rieb sich Ali Abdel Rasul grinsend die Hände.
„Dieses Schiff ist mehr wert als alles, was ich kenne“, sagte er zu seinem Vertrauten Moshe. „Und ich werde es überwachen und hüten wie meinen Augapfel, denn was ich über diesen Mann gehört habe, grenzt schon an Mystik. Er wird genau nach meinem Plan handeln, Moshe, ob er will oder nicht. Ich werde ihn ganz bewußt dahin leiten, daß er mir ahnungslos zu Diensten ist. Dieser Seewolf ist kein Mann wie jeder andere, er ist ein besonderer Kerl, und er reagiert so, wie ich mir das vorstelle. So wird er mein Werkzeug werden, mit dessen Hilfe ich mir alles das hole, was ich schon immer holen wollte. Und er wird auch die Schmach teuer bezahlen, die er mir am Bild des Minotaurus angetan hat.“
„Ja, Herr“, sagte Moshe, „ich weiß, daß du das schaffst, was du dir vornimmst. Wir hätten ihn allerdings auch blitzartig überfallen können, er weiß nicht, welche Möglichkeiten wir haben.“
„Nein, das weiß er nicht. Aber ein Überfall bringt uns nichts weiter als blutige Nasen, denn du hast diese Männer gesehen, die erbarmungslose Kämpfer sind. Mit Gewalt erreichst du nur mit einer großen Übermacht etwas, aber mit List und Tücke erreichen wir mehr. Ich weiß, daß ich ihn kriege, aber ich muß noch mehr über ihn und das prächtige Schiff erfahren, dann kann ich meine Pläne genauer ausrichten. Du wirst jetzt dafür sorgen, daß der Delphin das Schiff nicht aus den Augen verliert. Er soll immer Fühlung mit der Galeone halten und uns die Richtung angeben, so wie wir es schon einmal getan haben. Ihr alle, Moshe, werdet reich belohnt werden, sobald mein Traum in Erfüllung geht.“
„Ja, Herr“, sagte Moshe heiser und von der Aussicht, nicht mehr „arbeiten“ zu müssen, schon fast krankhaft begeistert.
Dann kümmerte sich Moshe um den Delphin, den er abgerichtet und fast zwei Jahre lang dressiert hatte. Zuvor hatte er es mit einem anderen versucht, aber der war nicht halb so klug wie jener, der ihr ständiger Begleiter war. Dieser hier war fast ein Genie. Er hatte sich so an die Feluke und ihre Männer gewöhnt, daß er höchstens mal für einen Tag verschwand, dann aber pünktlich wieder erschien und sie begleitete.
Und Ali nutzte diese Anhänglichkeit rigoros aus, wie es seiner durchtriebenen Natur entsprach.
Sehr spät am Nachmittag rührte sich ein Lufthauch. Ein kaum merkbarer Hauch fächerte über das Wasser, das für Augenblicke so aussah, als krabbelten Milliarden Ameisen darüber hinweg.
„Hoch die Lappen!“ schrie der Profos. „Auf Stationen, ihr schlafmützigen Kanalratten. Gleich zieht der dickste Orkan auf, und ihr triefäugigen Miesmuscheln steht pennend an Deck.“
Des Profoses Worte waren wieder einmal stark übertrieben, aber er dachte an die Schinderei, die ihnen mit dem Boot als Vorspann bevorstand, und daran dachten die anderen natürlich auch. Sogar der hitzköpfige Luke Morgan gab keine Widerrede und enterte auf, als würde tatsächlich gleich ein Orkan über sie hereinbrechen.
Aber der winzige Hauch verwehte schon wieder, und in die Stille hinein drang Carberrys lästerliches Fluchen.
Jeder lauerte auf den nächsten Windatem, doch der erfolgte erst sehr viel später und kräuselte erneut das Wasser.
Old O’Flynn besann sich auf alte Taktiken, wie man den Wind herbeizaubern konnte, und griff auf den Trick zurück, heimlich und ungesehen am Fockmast zu kratzen.
Aber das wiederum kratzte den Windgott nicht. Er ließ sich gnädig dazu herab, nur für kurze Zeit seinen Atem leicht über das Wasser zu blasen.
Immerhin nahm die „Isabella“ Fahrt auf, wenn auch der Bart vor dem Bug ausblieb und kein Kielwasser schäumte. Aber sie setzte sich in Bewegung und ging schwerfällig auf Ostkurs.
Ein anderer hatte den nötigen Wind, und er brauchte ihn auch dringend und bitter, denn er mußte vor den Türken auskneifen, die ihn erbarmungslos scheuchten und jagten, um ihm den Rest zu geben.
Dieser andere war Henk Kruger, ein dunkelblonder Holländer, einsneunzig groß, ein Kerl wie ein Bär, mit einem breiten Kreuz, gewaltigen Pranken und wasserblauen Augen, die unablässig mit dem Spektiv die See achteraus absuchten.
Da der Handel nicht so viel einbrachte wie die Piraterie, hatte sich Henk Kruger darauf verlegt, kleinere Städte zu überfallen und rigoros auszuplündern. Bisher war das auch meist gutgegangen, doch gestern hatte ihn das Pech verfolgt, und wenn er jetzt seine Viermastgaleone „Goekoop“ ansah, dann stand ihm die nächtliche Szene deutlich vor Augen, und die Erinnerung kehrte zurück.
In der Nacht vor Weihnachten schob sich die „Goekoop“ abgedunkelt und fast lautlos auf Karatus zu, die kleine Stadt im Golf von Iskenderun, nordöstlich von der Insel Zypern.
Das Städtchen schlief in tiefer Ruhe, und auch auf den paar türkischen Schiffen rührte sich nichts.
„Die haben nicht einmal Wachen aufgestellt“, flüsterte Henk seinem kampferprobten Steuermann van Hall zu. „Verdammt, die fühlen sich wohl absolut sicher. Wir gehen nach der alten Taktik vor. Boote in den Hafen, Häuser stürmen und anzünden, mitnehmen, was mitzunehmen ist, und dann ein paar. Breitseiten hinein.“
Vorsichtig tastete sich die „Goekoop“ weiter zum Land hin, ging an den Wind und begann etwas später zu kreuzen.
Zwei große Boote wurden abgefiert bei einem Kreuzschlag, der sie nicht von der Stelle brachte. Henk und seine rauhen Gesellen gingen in die Boote, schnappten ihre Waffen und pullten auf das schlafende Städtchen in stockfinsterer Nacht zu.
An dem schmalen Strandstreifen war kein Mensch zu sehen. Die Häuser waren kaum zu erkennen, im Hafen selbst herrschte unnatürliche Ruhe.
Kein Wort wurde gesprochen. Jeder wußte, was er zu tun hatte, denn es war nicht die erste Stadt, die sie überfielen.
Kurz vor den Häusern stieß Henk Kruger seinen Kumpan Zantkuyl unsanft an und deutete nach rechts. Zantkuyl verstand und zog seine Schnapphähne nach rechts hinüber, während Henk und seine Spießgesellen die linke Seite übernahmen.
Dann ging es blitzartig los. Dem ersten Haus wurde der Rote Hahn aufs Dach gesetzt, im zweiten wurden die Türen eingerannt. Pistolen krachten, Musketenfeuer ertönte.
Innerhalb weniger Lidschläge war der Teufel los, und Menschen stürzten schreiend, verängstigt und voller Panik aus den Häusern.
Henks Leute stürmten in die Häuser und begannen sie zu plündern. Anschließend wollten sie das Haus ebenfalls in Brand stecken.
Da erklang ein überlautes Donnern und Wummern, das sie verstört zusammenfahren ließ.
„Das waren nicht unsere Culverinen!“ brüllte der Holländer. „Verflucht, da ist was passiert!“
Er rannte aus dem Haus und sah die Bescherung. Einen Augenblick wirkten er und seine Kumpane wie erstarrt.
Die Türken feuerten. Die scheinbar schlafenden Mannschaften standen auf ihren Stationen und jagten der „Goekoop“ eine Breitseite nach der anderen hinüber.
Gerade als Henk Kruger zum Strand laufen wollte, schlug es zweimal hintereinander auf der „Goekoop“ ein. Splitter flogen nach allen Seiten, vor dem Schiff stiegen Fontänen aus dem Wasser, und zu allem Übel hauten die paar Mann, die an Bord geblieben waren, auch noch mit der Galeone ab.
Kruger warf seine Muskete weg. Sein Gesicht war vor Wut, Überraschung und Enttäuschung zur Fratze verzerrt.
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