Die Seewölfe, die vom Schanzkleid aus zuschauten, begann jetzt auch noch, den Kerl zu loben. Ibrahim hatte sie mit seinen Sperenzchen schon halb in die Tasche gesteckt.
„Darf ich fragen, welchen Kurs ihr steuert, Herr?“ fragte der Händler, als sie zwischen Teppichen, Degen, Wasserpfeifen und Tonkrügen standen und immer wieder Datteln, Feigen, Nüsse und Backwerk angeboten kriegten.
Hasard sah den Händler aufmerksam an. War da nicht ein Lauern in den schwarzen Augen, eine versteckte Gier? Oder bildete er sich das nur ein?
Ibrahim senkte schuldbewußt den Blick.
„Verzeiht, Herr“, sagte er leise. „Es steht mir nicht an, Neugier zu zeigen, aber vielleicht kann ich euch helfen. Ibrahim kennt Weg und Steg. Ibrahim kennt alle Länder an den östlichen, nördlichen und südlichen Küsten.“
„Wir treiben Handel“, sagte Hasard ausweichend. „Oder versuchen, neue Märkte zu öffnen, Kostbarkeiten mitzubringen, und eines Tages werden wir, schwer mit den Schätzen des Orients beladen, wieder nach England zurückkehren. Aber vielleicht kannst du mir doch helfen, Ibrahim. Wir sind auch von Entdeckerdrang beseelt und haben von einem Land gehört, in dem es himmelhohe Bauwerke gibt oder geben soll. Diese Bauwerke sollen so unwahrscheinlich groß sein, daß ich nicht glauben kann, daß sie existieren, denn sie müßten allein durch ihr Gewicht einstürzen, können also gar nicht gebaut werden, wie mir zu Ohren kam.“
„Es gibt sie, Herr“, sagte der Händler sehr bestimmt. „Habt ihr eine Karte oder Aufzeichnungen darüber?“
„Ja, das heißt nein, natürlich nicht, wir haben mal eine Karte darüber in einer Spelunke gesehen, aber das ist schon lange her, und wahrscheinlich war das eine Fälschung.“
Der Händler ließ sich nichts anmerken, aber er spürte, daß der große schwarzhaarige Mann ihn soeben angelogen hatte.
„Diese Bauwerke“, sagte er. „nennt man die Pyramiden. Sie stehen in Ägypten, in der Wüste. Die Pharaonen haben sie vor Jahrtausenden erbauen lassen, und ich wette meine Feluke gegen euer Lächeln, daß es auf der ganzen Welt keine größeren Bauwerke gibt. Diese Pyramiden sind die Grabstätten der alten Könige und Pharaonen – und sie sollen unermeßliche Schätze bergen.“
„Das weißt du genau?“ fragte Hasard gespannt.
„Ganz genau, Herr.“
„Hast du sie selbst gesehen?“
„Nein, Herr. Um sie zu erreichen, muß man den größten Strom des Kontinents hinaufsegeln. Doch das ist mit unglaublichen Gefahren verbunden.“
Diesmal war sich der Seewolf ziemlich sicher, daß Ibrahim ihn anlog. Nicht, was diese Bauwerke betraf, die gab es vermutlich doch, und der Händler hatte sie auch schon gesehen, aber er stritt es ab, selbst schon einmal dort gewesen zu sein.
„Und wie gelangt man dahin?“ fragte Hasard. Er ließ sich seine Erregung nicht anmerken, denn er spürte, daß er ganz dicht vor dem entscheidenden Geheimnis stand, das die Karten bargen.
„Der Nil hat viele Arme“, sagte der Händler. „Ihr könnt in Dumyat hineinsegeln, in Rashid oder El Iskandariya, ihr werdet immer auf die Bauwerke stoßen, und sie werden euch ein Leben lang in Erinnerung bleiben.“
„Ich kann mit diesem Schiff auf dem Nil segeln?“ fragte Hasard gespannt.
„Ja, Herr. Natürlich braucht ihr viel Geschick und Mut. Ihr könnt bis zum ersten Katarakt segeln, bis zur Nilinsel Philae, vorbei an den Pyramiden, den Tempeln Echnatons, der Hathor, Karnak, Luxor, Theben. Ihr werdet den Tempel Amenophis’, den Tempel des Horus und den von Kom Ombo sehen. Dann geht es nicht mehr weiter, jedenfalls nicht mit eurem Schiff. Mit einem kleineren Fahrzeug könnt ihr weiter zum herrlichen Tempel der Göttin Isis oder des Ramses bis hinauf nach Abu Simbel zum zweiten Katarakt. Und damit ist der Nil immer noch nicht zu Ende und birgt Geheimnisse.“
Was Hasard hier hörte, ließ ihn erschauern, und er war fast geneigt, dem Händler die Karten zu zeigen.
Statt dessen aber fragte er: „Und woher weißt du das alles so genau?“
„Man hört viel, Herr, und man verkehrt mit Leuten, die das alles ganz genau wissen. Es stimmt, was ich sagte. Ihr könnt euch davon überzeugen, nichts an der Geschichte ist übertrieben oder gar gelogen.“
Hasard blickte nachdenklich auf die vielen Kostbarkeiten, die die Feluke in ihrem Innern barg. Sekundenlang spielte er wieder mit dem Gedanken, Ibrahim die Karten zu zeigen, doch ebenso schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Nein, die Karten sollte nur jemand sehen, der sein uneingeschränktes Vertrauen genoß, denn diesem Schlitzohr traute er nicht so richtig über den Weg.
Sie sahen sich weiter um, fasziniert von den Kostbarkeiten, die Ibrahim auf der Feluke hatte, und sie kauften auch einiges, genau genommen viel mehr, als sie eigentlich wollten.
Gary Andrews und Blacky waren es satt, ständig auf die Feluke zu starren, und so gingen sie zur anderen Seite hinüber und sahen dem seltsamen Delphin zu, der pfeilschnell durch das Wasser pflügte.
„Wenn man dem so zusieht“, meinte Blacky, „dann kriegt man direkt auch Lust zum Schwimmen.“
„Tu’s doch“, riet Gary. „Der wird schon auf dich losgehn, wenn du im Bach bist. Und wenn er dir mit seinen scharfen Zähnen die Knochen anfrißt, vergeht dir die Lust aufs Schwimmen.“
„Delphine gehen nicht auf Menschen los“, erklärte Blacky. „Ich habe jedenfalls noch nichts Derartiges gehört.“
„Darauf würde ich mich nicht verlassen.“
Die Motzerei ging hin und her, und jeder wollte mit seiner Meinung recht behalten, bis der Kutscher erschien und ebenfalls ins Wasser blickte.
„Du weißt doch immer alles, Kutscher“, sagte Gary. „Blacky will nicht glauben, daß Delphine auch Menschen angreifen. Was meinst du dazu?“
„Glaub ich auch nicht, aber genau weiß ich es nicht. Probiert es doch aus, dann wißt ihr es.“
„Und wenn der Delphin wirklich angreift?“
„Dann wißt ihr es endgültig“, sagte der Kutscher trocken, „und könnt eure Weisheit an andere weitergeben.“
Blacky zog sich grinsend das Hemd über den Schädel, während Gary Andrews ihn fassungslos anstarrte.
„Du willst wirklich?“ fragte er entsetzt. „Der ist vielleicht so verfressen wie ein Hai.“
„Ich bin jedenfalls kein Feigling“, erklärte Blacky.
„Aha, das soll wohl heißen, daß ich einer bin, was?“
„Was du bist, ist mir gleichgültig, jedenfalls hast du vor dem kleinen Sardinenfresser Angst, das steht fest.“
Gary trat drohend einen Schritt vor.
„Sag noch einmal, daß ich Angst habe“, knurrte er. „Dann reiße ich dich Pfeffersack in Fetzen.“
Blacky grinste verwegen und sah Gary abschätzend an.
„Es steht doch fest, daß du nicht in den Bach willst, solange dieser Piepmatz da rumschwimmt. Oder täusche ich mich?“
„Das hat doch mit dem Piepmatz nichts zu tun!“ brüllte Gary empört. „Mir ist das Wasser viel zu kalt, das ist es.“
Blacky grinste so infam, daß Gary rot anlief. Auch er riß sich jetzt mit einem Ruck das Hemd vom Körper.
„Angst vor einem Delphin? Pah!“ sagte er verächtlich, und dann sprang er noch eher als Blacky.
Das Wasser war nicht kalt und auch nicht sonderlich warm, es hatte eine angenehme Temperatur, und dazu war die See so glatt wie ein Spiegel.
Die beiden Männer schwammen ein Stück vom Schiff weg. Ein paar andere Seewölfe wechselten ebenfalls die Seiten und fragten sich, was sie beiden wohl wieder ausheckten, daß sie gerade jetzt ein Bad nahmen.
Sie waren noch keine zwei Minuten im Wasser, als der Delphin unter ihnen entlangglitt. Aus der Tiefe heraus sah er aus wie ein sich schnell nähernder Hai, und Gary warf einen entsetzten Blick nach unten, denn er war der felsenfesten Überzeugung, das Biest würde jetzt sofort angreifen. Dann erkannte er, daß es doch der Delphin war, nur verringerte das seine Scheu keineswegs, denn man konnte ja nie wissen!
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