Und die, so stand es heute in der Zeitung, war jetzt tot. Kaum zu fassen.
Das hübsche Mädchen damals war fast noch ein Kind gewesen, und Lüppo Buss hatte sich ein bisschen dafür geschämt, dass er sie attraktiv fand. Aber er stand nun einmal auf große Blondinen. Solche wie seine Nicole.
Er nahm die Mütze ab und strich sich durch die Haare. Natürlich war er nicht zum Inselbahnhof gekommen, um nach Frauen Ausschau zu halten. Da würde Nicole ihm auch schön etwas erzählen. Nein, Lüppo Buss war der Schüler wegen hier. Heute war letzter Schultag, da kamen die Festlandsschüler und Internatszöglinge aus dem Exil zurück, und abendliche Feten waren schon Tradition. Feten mit viel Alkohol und gelegentlich auch mit anderen Stimmungsmachern. Und ordentlich Randale und Bambule.
Im Amtsdeutsch hieß das Ruhestörung, Sachbeschädigung und Körperverletzung. Tendenz alljährlich zunehmend. Lüppo Buss kannte seine Pappenheimer, die Rädelsführer ebenso wie die Mitläufer. Und so, wie es aussah, waren sie allesamt wieder da. Beste Voraussetzungen für eine unruhige Nacht.
Ein lautes Pfeifen kündigte die erneute Ankunft der Inselbahn an. Was, schon wieder? Der Oberkommissar schaute zur Uhr: Gerade zwanzig Minuten waren vergangen, seit der Zug seine Fahrgäste auf den Bahnsteig gespieen hatte. Dann kam er drauf: Klar, die Reederei hatte eine Vorfähre eingesetzt, weil zum Ferienbeginn in Niedersachsen mit besonderem Ansturm zu rechnen war. Dieses Schiff war einige Minuten vor dem eigentlichen Termin gefahren, was den Fahrgästen sicherlich gar nicht aufgefallen war. Der nächste Schwung Menschen, der jetzt gerade eintraf, bestand aus den Passagieren der regulären Fähre.
Eigentlich hatte Lüppo Buss genügend zu tun, trotzdem gönnte er sich noch ein paar Minuten, um das Touristengewühl an den Gepäckwagen und die Schlacht um die Koffer noch einmal zu genießen. Niemand schien bereit zu sein, zum Auftakt eines vermutlich mehrwöchigen Urlaubs auch nur fünf Minuten zu warten. Ellbogen wurden eingesetzt wie Rammböcke. Menschen, dachte Lüppo Buss, waren doch faszinierend. Jeder einzelne für sich war vernünftig und intelligent, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Aber Menschen in Massen waren schlimmer als eine Herde Rinder. Alles Rationale und Kultivierte fiel von ihnen ab wie eine dünne Lackschicht, die in großen Placken zu blättern beginnt, sobald der Untergrund in Bewegung kommt. Irgendwie peinlich für jeden Angehörigen dieser Gattung, aber auch immer wieder spannend.
Die Tatsache, dass beim Verladen des Gepäcks natürlich nicht zwischen Fähre und Vorfähre unterschieden worden war, verstärkte das Getümmel noch. Jedes der beiden Schiffe hatte seinen Anteil der Containerwagen an Bord genommen, ohne Rücksicht darauf, ob der Inhalt nun zu den jeweiligen Passagieren gehörte oder nicht. So hatte manch einer die scheinbar gewonnenen Minuten mit Warten auf seine Koffer verbracht. Andere dürften in dem Glauben, ihr Gepäck sei verloren gegangen, ganz hübsch in Panik geraten sein.
Natürlich hatte sich kein Reedereimitarbeiter die Mühe gemacht, die Passagiere über diese Möglichkeit aufzuklären. Die wollten vermutlich auch ihren Spaß haben, dachte Lüppo Buss.
Wenigstens kamen jetzt, da alle Containerwagen eingetroffen waren, alle Passagiere zu ihren Koffern. Auch die, die ihr Gepäck schon verloren geglaubt hatten. Und diejenigen, die sich bereits zu ihren Unterkünften aufgemacht hatten, nicht ohne schon von unterwegs per Handy Verlustmeldungen auf den Anrufbeantworter des Polizeibüros An der Kaapdüne zu sprechen, würden ihre Koffer nachgeliefert bekommen. Die Hoteliers und Vermieter kannten sich schließlich aus.
Ein hochgewachsener junger Mann in schwarzer Lederjacke schien sein Glück, doch noch zu seinem Koffer gekommen zu sein, gar nicht glauben zu können. Noch auf dem Bahnsteig öffnete er das Gepäckstück, um den Inhalt zu inspizieren. Er nahm sich richtig viel Zeit dafür, fand Lüppo Buss. Schließlich stapfte er dann doch noch in Richtung Ortsmitte davon, den Rollkoffer hinter sich herziehend.
Seufzend schloss sich der Oberkommissar ihm an. Erst mal zur Polizeistation gleich beim Wasserturm, die gegenstandslosen Kofferklau-Meldungen vom Anrufbeantworter löschen, und dann weiter im Text in Sachen Angela Adelmund. Bisher war jede einzelne Überprüfung im Sande verlaufen. Die Mutter der Toten war vor zwei Jahren verstorben, und einen Vater schien es nie gegeben zu haben. Blieb der angebliche Bruder – und von dem wusste überhaupt niemand irgendetwas. Angela, so hieß es, sei ein Einzelkind gewesen, und genau das stand auch in der Einwohnermeldekartei. Eine Tatsache, die ihnen die Arbeit nicht gerade erleichterte.
Jedenfalls war für den Rest des Tages für Beschäftigung gesorgt. Und für die halbe Nacht auch – in dieser Hinsicht war auf die Inseljugend Verlass. Wenn er Glück hatte, reichte die Zeit noch für ein Abendessen mit Nicole. Aber nicht einmal das war gewiss.
In solchen Momenten beneidete er doch die Urlauber, die hier auf Langeoog nichts als Müßiggang erwartete. Solche wie den jungen Mann mit dem Rollkoffer, der unmittelbar vor ihm das Bahnhofsgelände verlassen hatte.
Komisch. Eigentlich hätte der Typ direkt vor ihm laufen müssen. Aber das war nicht der Fall. Er war wie vom Erdboden verschluckt.
»Ach. Das ist ja interessant.« Stahnke griff nach dem Zettel, den Kramer ihm unter die Nase geschoben hatte, und blickte zu dem Oberkommissar hoch. »Ein Kollege also?«
»Ex-Kollege, besser gesagt.« Kramer wies auf eine Datumszeile am Ende des kurzen Textes: »Letztes Jahr ausgeschieden. Auf eigenen Wunsch.«
»Trotzdem allerhand.« Stahnke drehte sich auf seinem Stuhl zum Fenster hin, wandte dem hektischen Getriebe der emsig arbeitenden Mordkommission den Rücken zu. »Stephanie Venemas heimlicher Lover ist also ein SEK-Rambo.«
»Ehemaliges Mitglied eines Sondereinsatzkommandos«, korrigierte Kramer milde. »Lennert Tongers, 25 Jahre. Stand zuletzt im Rang eines Kommissars. Hat die Hochschule für Verwaltung mit Auszeichnung absolviert. Ausgebildet in allen möglichen Kampftechniken und mit den verschiedensten Waffen. Alle Lehrgänge mit gut bis sehr gut bestanden. Der Junge hatte eine Karriere vor sich.«
»Und warum schmeißt er die weg?«, fragte Stahnke. »Doch nicht etwa, um so ein schmieriger Privatschnüffler zu werden wie dieser Mats Müller?«
»Wissen wir nicht«, antwortete Kramer, stoisch wie immer. »Da nichts gegen Tongers vorlag, bestand ja auch kein Grund, ihn nach seinem Ausscheiden unter Beobachtung zu halten. Es gibt schließlich die verschiedensten Motive, eine einmal gefällte berufliche Laufbahnentscheidung nach entsprechenden Erfahrungen zu verändern, auch nach Jahren noch. Die meisten dieser Motive sind ehrenhaft.«
»Das kann man wohl sagen«, stimmte Stahnke zu und grinste mehrdeutig. Aber natürlich glitt auch dieser Versuch der Selbstironie spurlos an Kramer ab.
Dass der hier stand und ihm, Stahnke, Untersuchungsergebnisse zur Bewertung vorlegte, zeugte wieder einmal von seiner maßlosen Loyalität. Schließlich war er es gewesen, der den sogenannten ersten Angriff bei der Untersuchung des Mordversuchs an Stephanie Venema koordiniert hatte. Er hatte – mit Manninga zusammen – die Mordkommission Modenschau personell zusammengestellt und ihre Leitung übertragen bekommen. Kommissarisch natürlich, denn Stahnkes Rückkehr stand ja kurz bevor. Trotzdem, über zwanzig Männer und Frauen, unterstützt von der Analysestelle Fahndung und der Kriminaltechnik, hatten unter seiner Führung ihre Arbeit aufgenommen. Kramer hätte sehr wohl darauf dringen können, auch nach Stahnkes Eintreffen mehr als nur die Rolle des Aktenführers für sich zu beanspruchen, schließlich konnte die nachträgliche Übergabe der Leitung an den Hauptkommissar durchaus zu Reibungsverlusten führen. Das aber hatte er nicht getan, hatte nicht einmal ein Wort darüber verloren.
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