Als das Gewühl auf dem Bahnsteig weniger und das Quietschen allmählich leiser wurde, begann Stephanie sich zu wundern. Immer noch war kein Gepäckwagen mit der Nummer 42 aufgetaucht. Ob ausgerechnet dieser Wagen immer noch auf einem der offenen Pritschenwaggons stand?
Es sah nicht so aus, und während sie dies feststellte, ließ der Lokführer das Signalhorn ertönen, und die Inselbahn setzte sich langsam wieder in Bewegung, zurück Richtung Hafen. Damit wäre das geklärt, dachte Stephanie. Der Wagen muss also schon hier auf dem Bahnsteig stehen, und ich habe ihn bloß übersehen.
Ein wenig schneller aber klopfte ihr Herz doch, als sie die Reihe der offen dastehenden Gepäckwagen abschritt, an denen sich jetzt nur noch wenige Reisende zu schaffen machten. Natürlich hielt sie es prinzipiell für möglich, dass sie sich geirrt und den richtigen Wagen übersehen hatte. In Wirklichkeit aber glaubte sie nicht daran.
Und tatsächlich: keine Nummer 42. Auch beim zweiten Kontrolldurchgang nicht. Wie war das möglich? Hatte sie sich denn so getäuscht?
Da stand ein Gepäckwagen mit der Nummer 24. Vermutlich war das die Lösung. Sie hatte sich zwar die richtigen Ziffern, aber in der falschen Reihenfolge gemerkt. Erleichtert schritt sie auf den Wagen zu.
Aber zu früh gefreut. Drei schwarze Riesenkoffer, einer davon ohne Rollen, zwei verschnürte Kartons, ein Bündel Strandspielzeug – das war alles, was Nummer 24 noch enthielt. Wieder schlug Stephanies Herz schneller. Deutlich spürte sie die ersten Anzeichen von Panik.
Einige der weiß bemützten Männer standen noch herum, aber keiner von ihnen schaute zu ihr her. Absichtlich? Sie konnte ja hingehen und einen von ihnen fragen. Aber wie würde sie dann dastehen? Wie ein hysterisches Gänschen.
Es half nichts, sie musste die ganze Wagenreihe noch einmal abschreiten und genau in jeden Gepäckwagen hineinschauen. Immerhin lagen ja noch etliche Koffer darin. Ihrer musste einfach noch dabei sein. Wer klaute hier auf Langeoog schon Koffer? Das gab’s doch gar nicht.
Na ja, Dealer und kiffende Jugendliche gab es hier ja ebenfalls. Warum nicht auch Beschaffungskriminalität?
Stephanie zwang sich, langsam zu gehen und genau hinzuschauen. Ihr Koffer war relativ klein und schwarz, hatte einen herausziehbaren Bügel mit einer roten Arretierung. Ein gängiges Modell, nicht besonders auffällig. Hier aber waren die meisten Gepäckstücke größer, Familienformat eben. Und die kleineren Koffer sahen deutlich anders aus als ihrer. Mist, verdammter. Ihr Herz begann zu rasen, und die Panik war ganz nahe.
Und dann sah sie ihn doch, ihren kleinen schwarzen Rollkoffer mit dem Bügel und der roten Taste darunter. Zur Sicherheit schaute sie schnell auf ihren Gepäckschein. Ja, die Ziffern stimmten auch überein. Gott sei Dank, alles noch einmal gut gegangen. Sie war einfach etwas unaufmerksam gewesen. Und beinahe hysterisch.
Im Weggehen drehte sie sich noch einmal um. Gepäckwagen 35 war das. Warum nur war sie sich so sicher gewesen, dass sie ihren Koffer in die Nummer 42 geschoben hatte? Wie hatte sie sich denn so täuschen können?
Es musste alles mit den Ereignissen der letzten Tage zu tun haben. Vermutlich war sie doch stärker angegriffen, als sie sich eingestehen wollte. Daddy hatte also recht gehabt, wieder einmal. Der Klinikaufenthalt würde ihr bestimmt guttun. Dumm von ihr, das nicht gleich eingesehen zu haben. Kopfschüttelnd trabte sie in Richtung Bahnhofsvorplatz, flüchtig den Gruß eines der weiß bemützten Männer erwidernd, die immer noch herumstanden.
Im Schatten der Bahnsteigüberdachung stand eine große, dunkle Gestalt ohne weiße Mütze und schaute ihr nach.
Als seine Zielperson den Schritt verlangsamte, stoppte auch Mats Müller ab. Schnell drehte er sich seitwärts und baute seine gedrungene Gestalt vor einem Schaufenster auf, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den Blick nur scheinbar auf die Auslage, tatsächlich aber aus den Augenwinkeln weiterhin auf das Objekt seiner Observation gerichtet, das gerade die Zeitschriftenständer eines Kiosks betrachtete. Bis jetzt hatte ihn der Mann nicht bemerkt. Tja, gelernt war eben gelernt! Hauptsache unauffällig, das war die Devise. Sehen, ohne gesehen zu werden. Davon verstand er etwas.
Zwei kräftig gebaute Frauen blieben neben ihm stehen, die eine rechts, die andere links von ihm. Beide warfen ihm merkwürdige Blicke zu, fragend die eine, empört die andere. Und die eine rümpfte sogar die Nase, als beide weitergingen. Was sollte das denn? Unauffällig senkte er den Kopf noch etwas weiter und schnupperte in Richtung Achselhöhle. Sicher, seit zwei Tagen war er jetzt schon nicht mehr aus den Kleidern herausgekommen, aber war das vielleicht seine Schuld? Und so stark roch er nun auch wieder nicht, dass man es gleich auf zwei Schritt Entfernung wittern könnte.
Oder etwa doch? Er hatte mal irgendwo gelesen, dass die Nase nur fremde, unbekannte Gerüche ans Gehirn weitermeldete. Ein Relikt aus der menschlichen Frühgeschichte: Neues bedeutete entweder Beute oder Gefahr, also Angriff oder Flucht, fressen oder gefressen werden. Bekannte Gerüche waren weder vielversprechend noch gefährlich und wurden unterdrückt. Angeblich funktionierte das Riechorgan heute noch so. In dem Fall konnte es natürlich sein, dass er für andere Leute tatsächlich etwas raubtiermäßig …
Er schaute nach vorne, in das Schaufenster, vor dem er stand. Damenunterwäsche, Übergrößen. Aha, deswegen. Dann war das mit seinem Körpergeruch also wohl doch nicht so schlimm.
Der Mann, den er observierte, stand immer noch vor dem Kiosk, offenbar unschlüssig, welches Hochglanzmagazin er nun kaufen sollte. Mats Müller fragte sich, ob er seinen Standort wechseln sollte. Vielleicht gab es ja nebenan eine männergerechtere Auslage. Obwohl, was war in dieser Hinsicht gegen Damenunterwäsche einzuwenden?
Außerdem schien er ja nicht der einzige Mann zu sein, der sich für so etwas interessierte. Im Schaufensterglas sah er nämlich, dass sich gerade gleich zwei recht männlich aussehende Gestalten neben ihm aufbauten, die eine rechts, die andere links. Eine mittelgroß und schmächtig, die andere deutlich größer. Breitschultrig, massig, stoppelhaarig. Verdammt.
Hauptkommissar Stahnke legte seine schwere Linke auf Mats Müllers schmuddelige Trenchcoat-Schulter. »Thou art the man«, zischte er ihm ins Ohr.
»Was?« Der Privatdetektiv zuckte zusammen. »Wieso Sau?« Er schnüffelte erneut, dann protestierte er: »Ich muss … Sie dürfen doch nicht … meine Arbeit! Wissen Sie, ich bin gerade …«
»Wissen wir«, unterbrach ihn Stahnke knurrend. »Sie observieren gerade das arme Würstchen, das sich an dem Kiosk da vorne eine neue Wichsvorlage kauft. So plump, wie Sie das machen, weiß das doch jeder! Was hat der Typ denn Schlimmes getan? Seiner Schwiegermutter den Rasierapparat geklaut?«
»Eduard Münzberger, Prokurist bei Weise-Papier«, murmelte Kramer, während er seine Augen scheinbar nicht von einer hautfarbenen Korsage in Killerwalgröße lassen konnte. »Seine Schwiegermutter rasiert sich nicht. Wer die Frau schon mal gesehen hat, weiß das.«
»Ja, aber … wie können Sie … woher?« Mats Müller schnappte nach Luft.
»Da staunen Sie, was?« Stahnkes Hand rutschte abwärts und schob sich unter Müllers Ellbogen. »Wir sind eben Profis. Und als Profi müsste ich mal dringend mit Ihnen reden.«
»Das geht nicht! Was wird mit Münzberger?« Mats Müllers Augen waren kugelrund. Offenbar nicht nur aus Angst vor einer abgebrochenen Observation.
»Keine Sorge. Kollege Kramer übernimmt so lange«, flüsterte Stahnke. »Jede Wette, das merkt Ihr Objekt bestimmt nicht.«
»Höchstens, weil er sich plötzlich so unbeobachtet fühlt«, ergänzte Kramer. Sein Gesicht, das sich in der Schaufensterscheibe widerspiegelte, drückte nichts als heiligen Ernst aus. Stahnke beneidete seinen Kollegen sehr um diese Fähigkeit. Vermutlich hatte er so auch Venemas Büroleiterin dazu gebracht, Mats Müllers Namen herauszurücken.
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