1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 »Dieses Zimmer muss kriminaltechnisch untersucht werden«, sagte der Inselpolizist. »Ich werde es versiegeln, sobald die erste Inaugenscheinnahme beendet ist.«
Fredermann schaute ihn konsterniert an; es schien eine Weile zu dauern, ehe er merkte, dass sich das Wortungetüm Inaugenscheinnahme auf das bezog, was sie hier gerade taten.
Sina Gersema hingegen nickte sofort.
Lüppo Buss zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Wo beginnen? Bei der Schreibtischschublade, entschied er. Der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für Schriftstücke. Vorsichtig zog er die Lade auf.
Papiere, sorgfältig gestapelt. Obenauf lag ein gefalteter Zettel im DIN-A4-Format, liniert, offenbar aus einem Schreibblock gerissen. Etwas stand darauf, in großen Blockbuchstaben.
Lüppo Buss zog den Zettel heraus und las laut vor: »WENN ICH TOT BIN«.
Selbst Fredermann bekam runde Augen. »Doch ein Abschiedsbrief?«, fragte er. »Wie passt das denn …«
Der Oberkommissar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er faltete das Blatt auseinander. Der Text war kurz.
»Wenn ich tot bin, will ich eingeäschert werden. Mein Körper soll brennen. Meine Asche soll am Osterhook verstreut werden, am Strand und in den Dünen. Alles, was ich besitze, soll mein Bruder bekommen.« Und eine kindlich wirkende Unterschrift. Angela Adelmund.
»Kein Abschiedsbrief«, sagte Lüppo Buss, »sondern ein Testament.«
»Und was für eins«, ergänzte Fredermann, der mitgelesen hatte.
»Ach«, sagte Sina Gersema. »Sie hatte einen Bruder?«
Sieht aus wie ein zertretener Schuhkarton, dachte Stephanie, als die Fähre einlief. Und glaubte sich mit einem Déja-vu-Erlebnis konfrontiert. Hatte sie das nicht schon einmal gesehen? Und gedacht?
Natürlich, der Schulchor. Die Reise nach Langeoog, das Trainingslager, die Auswahl für die begehrte Reise in die USA. Damals hatte sie genau hier gestanden, am Kai in Bensersiel. Allerdings nicht alleine wie jetzt. Zu viert hatten sie über das in ihren Augen nicht eben stylische Gefährt gewitzelt.
Stephanie fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, in der alles neu und spannend und aufregend gewesen war und das Leben ein einziger großer Spaß. Wie lange war das jetzt schon her, ein halbes Leben? Natürlich nicht. Keine zwei Jahre. Ein Zeitraum, in dem sich in ihrem Leben viel geändert hatte, sehr viel. Und in dem sie dieses Leben fast verloren hätte.
Verstohlen schaute sie sich um. Der Kai war voller Menschen, und es kam ihr vor, als starrten alle nur sie an. Was natürlich Blödsinn war, denn alle starrten erwartungsvoll der Fähre entgegen, genau wie sie selber auch. Schließlich war Juli, also Urlaubszeit, es war Mittag und sonnig, wenn auch etwas kühl und windig, und die Touristen strömten nur so nach Langeoog und auf die anderen ostfriesischen Inseln. Nordrhein-Westfalen hatte schon seit einer Woche Ferien, in Niedersachsen war heute letzter Schultag gewesen. Hochsaison.
Die Bugschrauben der Fähre wühlten beim Anlegemanöver schlammiges Hafenwasser auf. Noch so ein Anblick, an den sie sich gut erinnerte. Schließlich war sie in Ostfriesland aufgewachsen und hatte die Inseln häufig besucht. Für die Urlauber aber war das vermutlich ein richtig aufregendes Schauspiel. Die hielten einen halbstündigen Fährtrip durchs Wattenfahrwasser ja auch für eine abenteuerliche Seefahrt.
Ausnahmslos alle Urlauber aber zog die Schlammspritzerei doch nicht in ihren Bann, stellte Stephanie fest. Mancher der Umstehenden hatte tatsächlich auch Augen für sie. Männer vor allem, junge wie ältere, aber auch zwei, drei Frauen. Sie kannte das, dachte sich gewöhnlich nichts dabei. Heute aber war ihr das extrem unangenehm.
Was, wenn sie nun doch jemand erkannte?
Sie hatte alles dafür getan, dass das nicht passierte. Ihr langes, hellblondes Haar war dunkel gefärbt und im Nacken zu einem formlosen Knoten gebunden, ihre blauen, leicht schräg stehenden Augen und die hohen Wangenknochen waren hinter einer großformatigen Sonnenbrille versteckt, ihren Körper hatte sie in einen unförmigen, schlammbraunen Parka gehüllt, die langen Beine steckten in dunklen Jeans. Dazu trug sie schmuddelige Chucks, Turnschuhe aus Segeltuch, die sie schon vor zwei Jahren hatte wegwerfen wollen. Nur gut, dass ihre Füße seither nicht mehr gewachsen waren.
Ihren Rucksack hatte sie sich nur über die rechte Schulter gehängt, denn ihre linke Seite war noch sehr empfindlich. Sie spürte die Verbände unter der weiten Kleidung zwicken. Bis auf diesen erträglichen Schmerz fühlte sie sich vollkommen fit, obwohl der Anschlag erst sechsunddreißig Stunden her war. Daddys Ärzte hatten grünes Licht für die kurze Reise gegeben. Außerdem warteten auf Langeoog ja bereits weitere Ärzte auf sie.
Eine schriftliche Anmeldebestätigung für die Klinik trug sie bei sich. Auf den Namen Steffi Ventjer. »Gleiche Initialen. Falls einige deiner Kleidungsstücke noch gekennzeichnet sind«, hatte Daddy schmunzelnd erklärt. Gott, machte ihm dieses Versteckspiel etwa auch noch Spaß? Sie hatte nur gelächelt und nichts darauf geantwortet. Auch nicht, dass sie ihr letztes mit Wäschestift markiertes Kleidungsstück schon vor fünf Jahren in den Lumpensack gesteckt hatte.
Endlich lag die Fähre fest vertäut. Die Fahrgäste begannen sich über den brückenartigen Zugang an Bord zu schieben, während Elektrokarren damit anfingen, ganze Züge von Gepäckwagen über eine Rampe an Land und dafür andere Wagenketten aufs Schiff zu ziehen. In anderen Sielorten ging das noch per Kran vonstatten; dieses Verfahren hier fand Stephanie weit professioneller, auf jeden Fall schneller. In gewisser Weise waren die Fähren und ihre Kaianlagen in den jeweiligen Sielhäfen Spiegelbilder der verschiedenen Inseln, die von diesen Schiffen angefahren wurden. Im Gegensatz zu Borkum und Norderney, wo alles nach Massenabfertigung aussah, war Langeoog zwar autofrei, aber in der Hochsaison auch wiederum nicht so verschlafen wie etwa Baltrum, auch nicht so versnobt wie Juist oder so abgehoben wie Spiekeroog. »Fahrräder unerwünscht« – solch ein Schild würde man auf Langeoog wohl nicht finden.
Im Gedränge und Gerempel auf der Gangway begann ihr der Rucksack über den Rücken zu pendeln. Stephanie war froh, dass sie ihren Rollkoffer nicht auch hinter sich her ziehen musste, denn ihre Verletzungen schmerzten doch noch bei jedem Stoß und jeder kleinen Anstrengung. Ihr Koffer lag wohlverstaut in Containerwagen Nummer 42. Die Zahl hatte sie sich eingeprägt, um nach ihrer Ankunft auf der Insel nicht lange suchen zu müssen. Zwar hatte sie außerdem noch einen nummerierten Gepäckschein erhalten, dessen Gegenstück auf dem Koffer klebte, aber die Kofferausgabe ging erfahrungsgemäß viel schneller, wenn man sich gleich beim richtigen Wagen anstellte statt am Schalter.
Die Salons unter Deck füllten sich schnell; vielen Fahrgästen war es auf dem Sonnendeck offenbar zu windig. Stephanie ließ sich davon nicht abschrecken. Sie fand eine sonnenbeschienene Bank auf der Leeseite, lehnte sich mit der rechten Schulter an die eiserne Reling, hob das Gesicht dem wärmenden Licht entgegen und schloss die Augen.
Sonnenstrahlen und die sanften Überbleibsel abgelenkter Windstöße streichelten ihre Haut wie mit warmen, weichen Fingern. So, wie Mama es früher oft getan hatte. Und Lennert heute.
Lennert. Ihr großes, ihr einziges echtes Geheimnis vor Daddy. Ein Wunder, dass ihr Vater in den letzten neun Wochen nichts von ihm mitbekommen hatte. Ein Wunder auch, das Lennert vorgestern Abend niemandem aufgefallen war. Denn er musste in der Halle gewesen sein. Natürlich inkognito. Ob er versucht hatte, zu ihr zu gelangen, nachdem der Schuss gefallen war? Aber bestimmt hatten das viele gewollt. Bestimmt hatte die teure Security, von Daddy angeheuert, alle aufgehalten. Alle, auch Lennert.
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