Dann war Kramer plötzlich weg. Spurlos verschwunden. Noch so eine beneidenswerte Eigenschaft.
»Kommen Sie«, sagte Stahnke, »ich geb einen aus.« Er verstärkte seinen Ellbogengriff, ehe er ergänzte: »Einen Kaffee.«
Sie fanden einen freien Tisch vor einem der Eiscafés in der Mühlenstraße. Ein Glücksfall, denn obwohl es zwar schön sonnig, aber noch nicht so richtig sommerwarm war, waren überall die Freiluftsitzgelegenheiten schon sehr gut ausgelastet. Zum Grand Café oder zu den Schönen Aussichten wäre Stahnke nur ungern ausgewichen, denn zwischen Denkmalsplatz und Hafen wimmelte es am letzten Schultag vor den großen Ferien nur so von betrunkenen Schülern.
Mats Müller hantierte betont umständlich mit seinem Latte macchiato, als wollte er Zeit schinden. Nicht einmal das kann er geschickt verbergen, dachte Stahnke mehr mitleidig als geringschätzig. Er wusste, dass viele seiner ehemaligen Kollegen, die vom polizeilichen Stress und Frust irgendwann einmal die Nase voll gehabt hatten, heute als Objekt- oder Personenschützer oder eben als Private eye arbeiteten. Die wenigstens hatten diese Entscheidung aus Abenteuerlust gefällt; meist war ihnen gar nichts anderes übrig geblieben.
Dieser Müller freilich war ein Sonderfall. Er kam nicht aus dem Polizeidienst, sondern aus dem Strafvollzug. Schon nach wenigen Jahren in der JVA Oldenburg hatte ihn seine eigene Gier zu Fall gebracht. Seine Bestechlichkeit war ebenso legendär wie hemmungslos; gegen entsprechendes Entgelt war bei ihm praktisch alles zu bekommen. »Vorteilsnahme im Amt« nannten Juristen so etwas. Die aber waren in Mats Müllers Fall nicht zum Zuge gekommen. Die Oldenburger Kollegen hatten es vorgezogen, Müller durch energischen Druck zum Abschied zu bewegen, und ersparten es ihm damit, seine Laufbahn, die hinter Gittern begonnen hatte, auch hinter Gittern zu beenden.
Kaum zu fassen, dass einer wie Venema einen wie Müller engagierte, dachte Stahnke. Aber der Hinweis stammte aus sicherer Quelle.
Also brauchte auch nicht lange um den heißen Brei herumgeredet zu werden. »Sie haben im Auftrag des Reeders Kay-Uwe Venema dessen Tochter Stephanie observiert«, sagte Stahnke. »Sie wissen, dass Ihre berufliche Zulassung am seidenen Faden hängt. Uns liegen mindestens zwei Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs gegen Sie vor, die zwar beide von den Antragstellern zurückgezogen wurden, was uns aber natürlich nicht daran hindert, von Amts wegen tätig zu werden, wenn wir das für richtig halten. Sie werden mir also alles sagen, was Sie über diese Stephanie rausbekommen haben, und zwar gleich, und wenn Ihnen später noch etwas einfällt, dann eben auch später. Das, oder Sie sind raus aus dem Geschäft. Bedenkzeit entfällt. Los jetzt.«
Mats Müller setzte seine Tasse ab. Auch ohne den Milchschaum in seinen Bartstoppeln wäre er eine traurige Witzfigur gewesen. Immerhin aber schien er in der Lage zu sein, eine Entscheidung zu fällen.
»Venema leidet unter Paranoia, was seine Tochter betrifft«, sagte er leise. »So einer ist für unsereins eine Goldgrube. Jeder andere hätte schon nach einem ersten Bericht auf jede weitere Observation verzichtet. Aber der nicht. Alle paar Wochen klingelt der bei mir durch. Da fühlt man sich fast wie fest angestellt.«
»Kann mich gar nicht erinnern, nach Ihrem Befinden gefragt zu haben.«
Mats Müller ging mit keiner Miene auf Stahnkes Einwurf ein. »Stephanie ist ein echt sauberes Mädchen«, fuhr er fort. »Anständig, intelligent, gutes Benehmen, richtig nett. Allgemein beliebt. Altersgemäße Kontakte, auch viele davon. Aber wenige enge. Die habe ich alle überprüft. Ein Mädchen ist darunter, das Gras raucht, einer der Jungs hat schon mal geklaut, einer kloppt sich manchmal in Diskos herum. Kleinigkeiten, wenn Sie mich fragen. Und Stephanie weiß nicht einmal etwas davon. Sie trinkt auf Feten manchmal ein Glas Wein, und wenn andere betrunken sind oder bekifft, geht sie nach Hause.« Müller seufzte theatralisch: »Ich wollte, ich hätte so eine Tochter.«
Ich auch, dachte Stahnke. Laut sagte er: »Sie haben doch überhaupt keine Kinder.«
»Eben«, sagte Mats Müller. Mit Schwung leerte er sein Kaffeeglas. Eine blassbraune Perle blieb in seinem Mundwinkel hängen. Er schien es nicht zu bemerken.
»Nur in einem Punkt hat sie gelogen«, sagte er dann.
Stahnke hob auffordernd die Brauen.
»Sie hat einen Freund«, fuhr Mats Müller fort. »Seit gut zwei Monaten. Mit dem trifft sie sich regelmäßig. Ihr Vater weiß nichts davon.«
»Warum tut sie das?«, fragte Stahnke. »Ich meine, warum die Heimlichtuerei? Ist das Verhältnis zu ihrem Vater also doch nicht so vertrauensvoll?«
»Doch, ist es«, sagte Müller. »Fast schon unnormal eng, wenn man bedenkt, wie sich andere Mädels in diesem Alter so aufführen. Aber Papa Venema neigt zu hochgradiger Kontrolle. Einer wie er will alles bestimmen. Na, und es gibt eben Dinge, in die will man sich einfach nicht reinreden lassen.«
»Aber warum versteckt sie sich? Hat sie Angst vor einer Konfrontation?«
»Streit mag sie nicht, sie ist eher der ausgleichende Typ«, antwortete Müller. »Ob das aber der alleinige Grund ist, weiß ich nicht. Vielleicht muss sie sich auch selber erst noch über einiges klarwerden.«
»Wer ist dieser Typ, wie heißt er, wo wohnt er?« Stahnke fand, dass es Zeit für ein paar Fakten war.
»Vorname Lennert, Nachname unbekannt. Alter jenseits der zwanzig. Fährt einen getunten Golf, Wittmunder Nummer. Die kann ich Ihnen geben. Mehr weiß ich nicht.«
»Mehr wissen Sie nicht? Mann, machen Sie keine Hausaufgaben? Wofür bekommen Sie denn eigentlich Ihr Geld?«
»Dafür«, sagte Müller ruhig, »habe ich mein Geld nicht von Vater Venema bekommen. Sondern von der Tochter.« Er wich Stahnkes Blick nicht aus. »Was soll’s, Sie erfahren es ja sowieso. Damit spare ich Ihnen etwas Zeit. Natürlich können Sie mich jetzt bei Venema hochgehen lassen.« Mit einer schnellen Bewegung seiner Zungenspitze schleckte er sich den Kaffeetropfen aus dem Mundwinkel, so zielsicher, als hätte er die ganze Zeit um seine Existenz gewusst. »Aber überlegen Sie sich gut, wen und was Sie damit außerdem hochgehen lassen.«
Ratte bleibt Ratte, dachte Stahnke, während Müller die Wittmunder Autonummer auf ein Stück Serviette kritzelte. Nimmt Stephanies Beziehungs- und Familienglück als Geisel, gegen mich, und ich kann gar nichts machen. Drecksack. Aber egal, ein bisschen was haben wir wenigstens.
Er zückte sein Handy. Kramer war sofort dran.
»Münzberger ist jetzt im Erotischen Kaufhaus«, berichtete der Oberkommissar. »Gleich gegenüber vom Parteibüro der Grünen.«
Ich weiß, wo das ist, wollte Stahnke sagen, biss sich aber gerade noch rechtzeitig auf die Zunge. »Müller kommt jetzt«, sagte er knapp.
»Ist auch besser. Sonst habe ich nur noch die Wahl zwischen Lackstiefeln und Gesundheitslatschen«, sagte Kramer.
»Eins will ich mal klarstellen«, sagte Stahnke, nachdem er Mats Müller mit einer Handbewegung entlassen hatte. »Ehe du nicht über meine Witze lachst, lache ich auch nicht über deine.«
Die schlanke junge Frau kam ihm irgendwie bekannt vor. Aber er konnte sie nicht richtig einordnen. Sie ihn offenbar auch nicht, denn sie hatte seinen Gruß nur flüchtig erwidert. Vielleicht hatte sie ihn sogar mit einem der Kofferträger verwechselt, die trugen ja auch weiße Mützen. Sogar mit mehr Recht als er, denn die Polizei war inzwischen längst mit dunkelblauen Uniformen und Kopfbedeckungen ausgestattet, so dunkelblau, dass sie schon schwarz aussahen. Dass der Oberkommissar seinen weißen Deckel einfach beibehalten hatte, war genau genommen eine Dienstpflichtverletzung. Aber wo kein Kläger, da kein Richter, und bisher hatte sich niemand beschwert.
Nachdenklich schaute Lüppo Buss der hochgewachsenen Gestalt nach. Dann kam er drauf, an wen sie ihn erinnerte. Obwohl die Haarfarbe anders war. Vorletztes Jahr hatte er mit genau solch einer Schönheit zu tun gehabt, allerdings einer blonden.
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