Außerdem: Kinder sahen ihren Eltern zumeist irgendwie ähnlich, aber daß sie von diesem Zickenbart mit dem Habichtgesicht abstammen sollten, das wollte ihnen nicht in den Kopf. Es wurmte sie sogar. Sie hatten sich damals oft gefragt, woher sie die blauen Augen hatten – im Gegensatz zu den verschlagenen, dunklen Augen Kalibans. Die Antwort war ihre Begegnung mit ihrem wirklichen Vater gewesen. Vor zehn Jahren.
Damals hatte die Gauklertruppe ein großes Zelt mit einer Bühne und vielen Requisiten gehabt, und wenn sie von einem Ort zum anderen gezogen waren, hatten sie eine kleine Karawane gebildet.
Gab es das alles nicht mehr?
Fatima hatten sie sofort erkannt, allerdings eine Fatima, die sie niemals als „Blume“ ansprechen würden. Sie war damals schlanker und hübscher gewesen. Heute wirkte sie schlampig und heruntergekommen. Ihre Figur war auseinandergegangen. Was Mac an ihr fand, war den beiden Junioren ein Rätsel. Außerdem tanzte sie geradezu ordinär, was jedoch von der Mehrzahl der Kerle begrüßt wurde.
Im Bauchnabel hatte sie tatsächlich einen Rubin, da war Mac scharfäugiger als Granddad gewesen. Von einer Kirsche konnte überhaupt keine Rede sein. Na ja, und so spitzbusig war sie nun auch wieder nicht. Sie hatte zwar eine Menge zu zeigen, aber damals war das alles straffer und knackiger gewesen.
Am Rand der Plattform saß Batula und beklopfte das Tamburin. Batula war damals der Feuerschlucker in der Truppe gewesen. Offenbar hatte er den Beruf gewechselt. Das Zupfinstrument bediente Kiki, der Liliputaner mit dem Kretingesicht. Hinterher sammelte er laut Macs und Old Donegals Aussage das Geld ein. Auch er schien einen Berufswechsel vorgenommen zu haben. Früher war er als Männchen mit den Gliedmaßen aus Gummi aufgetreten, hatte sie verbogen und verdreht oder war herumgehüpft und hatte Saltos geschlagen. Auch auf dem Seil war er spazierengegangen wie Hasard und Philip.
Unübersehbar als mächtige Muskelkolosse ragten Baobab und Mehmed Bulba hinter der Plattform auf, die beiden riesigen Gorillas, die Ketten sprengten, Eisenstangen verbogen oder für Schaukämpfe zuständig waren. Jetzt schienen sie weiter nichts als Aufpasser zu sein. Und vermutlich gingen sie Kiki „zur Hand“, wenn sich einer der Schaulustigen vorm Berappen drücken wollte.
Kaliban hätten Hasard und Philip nicht auf Anhieb erkannt. Er hatte früher fast nur einen spitzen und hohen Hut, eine Art Tüte, auf dem Kopf getragen. An der Tüte hatten funkelnde Metallplättchen geklimpert und geklirrt. Für die beiden Jungen war das damals ein gewohnter Anblick gewesen – und so existierte Kaliban in ihrer Erinnerung.
Aber jetzt trug er einen gewöhnlichen Turban, und sein Ziegenbart war grau geworden, etwas kürzer und zerfranster. Er hielt sich auch nicht sehr gerade und mimte auf alter Mann, denn er benutzte einen Krückstock.
Im übrigen befand er sich mitten zwischen den Schaulustigen, von denen er sich mit Turban und Burnus in nichts unterschied.
Wenn er damals aus seiner Tüte Tauben gezaubert oder sonstige Zauberkunststückchen vorgeführt hatte, so war auch das ein ferner Traum oder eine Fata Morgana. Hier jedenfalls widmete er sich mit Eifer und Fleiß jener verabscheuungswürdigen Tätigkeit, die darin besteht, in fremde Taschen zu langen.
Gelernt war gelernt. Er tat es mit jener Unverfrorenheit und Geschicklichkeit, die nun einmal den guten Taschendieb auszeichnen. Er hatte sich einmal in eitler Selbstgefälligkeit als den „König der Taschendiebe“ bezeichnet, und das stimmte wahrscheinlich, denn Hasard und Philip konnten sich nicht erinnern, daß er ein einziges Mal erwischt worden wäre.
Aus Erzählungen der anderen in der Truppe wußten Hasard und Philip, daß Kaliban der Sohn eines Taschenspielers und Beutelschneiders war. Er war bei seinem Vater schon als Knirps in die Lehre gegangen. Allerdings hatte man den Vater in Beirut um Haupteslänge verkürzt, nachdem er dreimal hintereinander als Taschendieb entlarvt worden war. Das hatte Kaliban noch vorsichtiger werden lassen.
Weil Taschendiebe geschickt mit den Fingern sind, hatte Kaliban dann das Nützliche mit dem Praktischen verbunden und sich zum Zauberer und Magier mit eigener Truppe hochgearbeitet. Unbestritten war er ein Künstler seines Fachs, besser gesagt, seiner Fächer. Als Zauberer war er genauso genial wie als Taschendieb.
Und noch drei Langfinger waren am Werk – Achmed Ali, der Messerwerfer, Muzaffer, der Jongleur, und der fischige Hassan, der seinerzeit so eine Art Mädchen für alles gewesen war. Mit ihm hatten die Zwillinge damals in ständiger Fehde gelegen. Er hatte sie herumkommandiert beim Zeltauf- und -abbau, beim Packen der Requisiten, beim Bekochen der Truppe, beim Holzsammeln, bei der Versorgung der Tiere, beim Putzen von Gemüse – kurz bei allem, was den Tagesablauf der Gauklertruppe irgendwie betraf.
Sie waren Handlanger, Putzer und Laufburschen gewesen, und der fischige Hassan hatte sie beaufsichtigt. Und er hatte jede Gelegenheit wahrgenommen, ihnen die Ohren langzuziehen, sie zu piesacken und zu verdreschen.
Ihn entdeckten Hasard und Philip ganz zuletzt, und da beklaute er gerade einen alten blinden Mann, der am Straßenrand saß, bettelte und vier oder fünf Münzen in dem Fez zwischen den Beinen hatte, der ihm als Almosenschale diente.
Der fischige Hassan klaute die Münzen aus dem Fez und durchforschte anschließend die Taschen des Blinden, wo er jedoch bis auf einen Kanten Brot nicht weiter fündig wurde. Das Brot warf er achtlos in die Gosse, wo es von einem streunenden Hund aufgeschnappt wurde.
„Dieser dreckige, hundsgemeine Bastard“, knurrte Philip zwischen den Zähnen, „dem schlag ich die. Fischklüsen dicht!“
„Ruhig Blut, Phil“, mahnte Bruder Hasard, „ich glaube, er hat uns entdeckt und wird sich bei uns anpirschen!“
Tatsächlich wilderte der fischige Hassan am Rande des Geschehens und außerhalb des Zuschauerrings um die Plattform.
Hasard und Philip schlugen die Kragen ihrer Gewänder hoch und zogen sich die Turbane über die Augen.
Der fischige Hassan – von den Junioren so wegen seiner kalten Fischaugen genannt – schlich sich von hinten an und blieb hinter Hasard stehen.
Philip stand rechts von seinem Bruder. Als er aus dem linken Augenwinkel sah, daß Hassans rechte Hand im Gewand Hasards verschwand, fuhr er wie der Blitz um einhundertachtzig Grad nach rechts herum, den rechten Arm in Gesichtshöhe angewinkelt, die Hand straff ausgestreckt.
Aus der Bewegung heraus landete er einen kurzen Handkantenschlag am Hals Hassans. Der schnaufte kurz, verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
Noch bevor er ganz zu Boden ging, unterfingen sie ihn geschickt links und rechts und marschierten mit ihm ab. Er hing in ihrer Mitte wie ein Betrunkener, dessen Füße nicht mehr so recht wollen. Es fiel überhaupt nicht auf. Ein paar Leute, die sie passierten, grinsten verständnisinnig.
Einer sagte auf türkisch: „Total besoffen, was?“
„Bis unter die Haare“, erwiderte Philip in derselben Sprache, die sie von kleinauf gelernt hatten und genausogut beherrschten wie die arabische und englische Sprache – nicht zu vergessen die spanische. Sie hatten immer gut gelernt, diese beiden Killigrew-Söhne. Sie hatten lernen wollen, das war’s.
Auch den Nahkampf hatten sie gelernt, jenen mit Fäusten und Handkanten – samt der Schläge auf gewisse empfindliche Körperteile, die zu zeitweiligen Bewußtseinsstörungen oder Lähmungen führen. In der Kunst der Selbstverteidigung war Dan O’Flynn ihr Lehrmeister gewesen, der wiederum bei den Mönchen auf Formosa der beste Schüler gewesen war.
Oh, was hatten sie alles in ihren siebzehn Lebensjahren gelernt! Ja, sicher, auch die Taschenspielerkünste eines Kaliban, aber genauso – und das viel eifriger – die Seemannschaft von der Pike auf, den Umgang mit den Waffen, die Kunst, auf gefährliche Situationen richtig und schnell zu reagieren.
Читать дальше