»Warum hat er das gemacht?« wollte sie wissen. Das fünfjährige Mädchen hörte das Märchen vom Rotkäppchen zum erstenmal. Phao erzählte sonst immer andere Geschichten, von der geschwätzigen Schildkröte, vom klugen Papagei und vom Affenkönig Hanuman, manchmal auch vom Sternenfahrer Sindhbad oder von den drei dummen Robotern. Er hatte der kleinen Eva schon viele Märchen erzählt, immer, wenn Evas Eltern unterwegs waren und er auf das Kind aufpaßte, damit es keine Dummheiten machte, nicht mit dem Materietransmitter spielte und sich früh und abends die Zähne putzte. Dabei half ihm Georg, aber Georg war nur ein Roboter und wurde allein mit Eva nicht fertig, er mußte den Befehlen gehorchen, auch wenn das Mädchen sie gab.
Deshalb baten Evas Eltern ihren Nachbarn Phao immer, wenn sie einen Abend oder ein paar Tage in einer anderen Stadt zu tun hatten, er möge doch auf ihre Tochter aufpassen, was Phao auch gern tat, denn er mochte die kleine Eva.
»Warum hat er das gemacht?« fragte Eva, und es war ihr anzusehen, daß sie das Verhalten des Drachen entschieden mißbilligte.
»Er wird Hunger gehabt haben«, vermutete Phao.
»Dann hätte er in ein Speisehaus für Drachen gehen müssen«, stellte Eva fest, und dem konnte Phao eigentlich nichts entgegensetzen. Selbst wenn der Drache daheim keinen Eiweißsynthetisator hatte, im Speisehaus hätte er jederzeit etwas Schmackhaftes bekommen. So wäre es zumindest logisch gewesen. Freilich, das Märchen war sehr alt und schon deswegen nicht logisch – vermutlich gab es damals noch keine Eiweißsynthetisatoren, aber das würde Eva später in der Schule erfahren.
»Weißt du, Evchen, das war ein böser Drache, und böse Drachen fressen nun mal kleine Mädchen.«
»Das ist nicht wahr«, empörte sich Eva. »Das hätte dem Rotkäppchen bestimmt wehgetan, und was wehtut, darf man nicht tun!«
»Aber das war doch vor langer, langer Zeit. Damals konnten die Tiere noch nicht denken, und manche von ihnen waren wirklich richtig böse. Erst seit die Menschen die meisten großen Tiere klug gemacht haben, gibt es keine solchen bösen Tiere mehr.«
»Trotzdem, ich will das Märchen nicht hören, ich mag es nicht. Das ist kein gutes Märchen!« sagte Eva. »Erzähl mir ein anderes.«
»Aber es gibt doch keine bösen Drachen mehr. Es gibt überhaupt keine Drachen mehr, schon seit vielen hundert, nein, tausend Jahren«, sagte Phao. »Ich glaube, sie waren zu böse, um klug zu werden.«
Eva aber ließ nicht mit sich reden, also erzählte ihr Phao ein anderes Märchen, das vom Froschkönig. Damit gab es keine Schwierigkeiten, während viele andere alte Märchen einfach nicht mehr stimmten, seit vor ein paar hundert Jahren die Menschen durch gezielte Veränderung der Erbanlagen bei vielen größeren Säugetieren die Voraussetzungen zur Entwicklung von Intelligenz geschaffen hatten. Es gab natürlich keine bösen Wölfe mehr, die kleine Kinder fraßen (wenn es sie je gegeben hatte, was Phao nicht glauben mochte). Es hatte nicht geholfen, aus dem Wolf einen Drachen zu machen.
Phao erzählte der kleinen Eva also das Märchen vom Froschkönig, Eva freute sich (obwohl sie wußte, daß es keine denkenden und sprechenden Frösche gab, aber dafür war es ein Märchen). Dann wollte sie noch eins hören, aber es war Schlafenszeit, und Phao ließ nicht mit sich handeln. Er paßte auf, daß Eva in ihr Bett ging, und blieb bei ihr; sie streichelte sein gelblichgraues Fell, bis sie eingeschlafen war. Leise ging Phao aus dem Zimmer und betätigte mit der Pfote den Lichtschalter, den Evas Eltern eigens für ihn knapp über dem Boden hatten anbringen lassen. Dann ging er durch die Automatiktür in die Bibliothek und rief den Roboter Georg, damit der ihm beim Lesen half – die Seiten umzublättern, fällt selbst dem intelligentesten Wolf schwer.
Warum wir die Bekanntlich-Geschichten geschrieben haben
Bekanntlich werden phantastische Erzählungen aus den unterschiedlichsten Gründen und mit den unterschiedlichsten Zielen geschrieben.
… Es begab sich aber, daß zu jener Zeit ein Raumschiff die Erde besuchte.
Das Raumschiff schwebte viele Kilometer über der Erde, durch eine dünne Sphäre des zeitlich phasenverschobenen Hyperraums zuverlässig getarnt und vor jeder Beobachtung sicher. Die Antigraven (die exakte Bezeichnung lautete übrigens: subquantengesteuerte antigravigene Transversalaggregate mit temporalinvertierten Meierschen Rückkopplungsgeneratoren) – die Antigraven also arbeiteten mit halber statischer Kraft, denn im Hyperraum herrschte fast völlige Sonnenwindstille.
»Die Kundschafter hatten recht«, sagte Siss Iisi der Achtbeinige. »Das ist tatsächlich ein Planet vom Typ h2O, aber die Zivilisation …«
»… ist vom Typ k0«, ergänzte Surr Sirr der Sechsbeinige mürrisch. »Wie sich Krebb Krabb der Zehnbeinige die Kontaktaufnahme mit dieser Zivilisation vorgestellt hat, ist mir ein Rätsel. Die Zivilisationen vom k0-Typ sind doch auf einen Kontakt mit uns gar nicht vorbereitet; sie sind viel zu traditionalistisch-schematophil. Und phantastophob. Na ja, eben ein wenig zu sehr von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt. Was soll man da machen?«
»Am besten, wir kehren wieder um. Schließlich können wir nichts dafür, daß sich Krebb Krabb der Zehnbeinige geirrt hat«, schlug Siss Iisi der Achtbeinige vor.
»Du weißt doch, wie sehr sich Krebb Krabb der Zehnbeinige solche Irrtümer zu den Herzen nimmt«, entgegnete Surr Sirr der Sechsbeinige. »Als er sich das letzte Mal geirrt hat, sind ihm vor Ärger gleich zwei neue Beine gewachsen, und du weißt selbst, wie unangenehm sowas ist. Nein, wir müssen wenigstens mit irgendeinem anderen Resultat zurückkehren, wenn es für die Kontaktaufnahme noch zu früh ist. Ich schlage deshalb vor, daß wir etwas unternehmen, um die geistige Flexibilität der Planetenbewohner zu erhöhen.«
»Du meinst den Telepathiestrahler?« erkundigte sich Siss Iisi der Achtbeinige.
»Genau den«, bestätigte Surr Sirr der Sechsbeinige.
Und es geschah also. Surr Sirr der Sechsbeinige programmierte den Telepathiestrahler. Dann brachten die beiden den Strahler in einer automatischen Sonde unter, stationierten die Sonde mittels eines planetengebundenen Raumankers über dem Erdäquator, schalteten die Antigraven ihres Raumschiffs auf volle dynamische Kraft und flogen nach Hause.
Unter der Sonde aber drehte sich jahrein, jahraus die Erde hinweg. Der Telepathiestrahler begann, die ihm eingegebenen Sujets für phantastische Erzählungen nacheinander in Richtung Erde abzustrahlen, und auf unserem Planeten packte bald diesen, bald jenen Autor der unwiderstehliche Drang, sich der Phantastik zuzuwenden. Das Programm des Telepathiestrahlers enthielt 84 790 verschiedene Sujets, die alle auf der Erde zu phantastischen Werken verarbeitet werden sollten, um die Menschen auf den Kontakt mit den Außerirdischen vorzubereiten und um ihre Denkweise etwas flexibler zu gestalten.
Nach ein paar hundert Jahren wurde die Hyperraumhülle der Sonde von einem Meteoriten aus Antimaterie getroffen, ein so unwahrscheinliches Ereignis, daß die Sonde dagegen nicht geschützt worden war. Infolge dieses Zusammenstoßes verrutschte die Sonde ein wenig nach Norden, deshalb werden auf der nördlichen Erdhalbkugel mehr phantastische Erzählungen geschrieben als auf der südlichen, und von den antarktischen Autoren hört man überhaupt nichts. Außerdem kam das Programm durcheinander, und obwohl erst ein Bruchteil der 84 790 Sujets abgestrahlt worden war, begann die Sonde wieder von vorn. Zum Glück rutscht ab und zu doch einmal ein Sujet mit hinein, das noch nicht da war …
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Bekanntlich ist die Zeitmaschine so ziemlich das Absurdeste, was sich je ein Phantastikautor ausgedacht hat. Es gibt eine Menge anderer hirnverbrannter Ideen, mit denen die Phantasten ihr Geld verdienen, aber die Zeitmaschine ist der Gipfel, das Nonplusultra der Absurdität. Die Idee mit der Zeitmaschine verstößt nämlich nicht nur gegen physikalische und andere Naturgesetze, sie verstößt gegen die grundlegenden Gesetze der Logik, weil sie eine Menge innerer Widersprüche enthält.
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