Über das Phänomen Erik Simon als Ganzes informiert, präzise und umfassend, das Vorwort von Hans-Peter Neumann, das bereits in der ersten Ausgabe von Sternbilder enthalten war. Ich möchte an dieser Stelle lediglich nachreichen (bzw. vorwegnehmen), daß der Autor die Neuedition um mehrere Gedichte und ein Märchen erweitert sowie die Anmerkungen durchgesehen hat. Wir haben es also beinahe mit einer »Ausgabe letzter Hand« zu tun, einer Ausgabe, an die Erik Simon letzte Hand angelegt hat, um seine Werke in der Form zu präsentieren, wie er sie veröffentlicht sehen will. Bisher sind sechs Bände erschienen bzw. zur Neuausgabe vorgesehen, aber es bleibt zu hoffen, daß der Autor uns noch das Vergnügen weiterer Bände bereitet. Denn bei aller gedanklichen Strenge, bei aller stilistischen Ausgefeiltheit sind diese Erzählungen und Gedichte nämlich genau das: ein großes Lesevergnügen.
Hannes Riffel
im März 2021
Vorwort zur Ausgabe von 2002
Dem 1950 in Dresden geborenen Diplomphysiker Erik Simon wird oft nachgesagt, daß er einen beachtlichen Einfluß auf die Entwicklung der Science Fiction in der DDR gehabt habe. Dieser Einfluß wird meist zuerst an seiner Tätigkeit als Lektor im Verlag Das Neue Berlin 1974 bis 1991, als Herausgeber von Anthologien sowie als SF-Theoretiker festgemacht: Er brachte den DDR-Lesern u. a. amerikanische und bulgarische SF näher, konzipierte mit Lichtjahr einen auch international beachteten SF-Almanach, war einer der beiden Herausgeber des Lexikons Die Science-fiction der DDR – Autoren und Werke und trug mit zahlreichen Essays und Rezensionen zur kritischen und theoretischen Aufarbeitung des Genres bei; er gilt als der prominenteste deutsche Kenner des Werkes der Brüder Strugazki.
Als Lektor war er vor allem für SF aus dem seinerzeit sozialistischen Ausland zuständig, er hat aber auch konzeptionell an der Publikation von westlicher und Vorkriegs-SF bei DNB mitgewirkt und gelegentlich (in den siebziger Jahren nur vertretungsweise, später regelmäßiger) DDR-Autoren betreut. In den späten achtziger Jahren war er bei DNB Fachgebietsleiter für SF. Sein besonderes Interesse für die kürzeren Formen äußerte sich auch in Simons Arbeit als Lektor und Herausgeber: Er hat (meist anonym) zahlreiche Erzählungsbände ausländischer Autoren zusammengestellt und von 1978 bis 2001 insgesamt 24 Anthologien herausgegeben (davon einige mit Ko-Herausgebern oder anonym und drei im Ausland). Essays und Kritiken hat er in Lexika und Werkführern, Anthologien, Zeitschriften, Zeitungen und Fanzines des In- und Auslandes veröffentlicht. Er ist – nach Franz Rottensteiner selbst – der dienstälteste noch aktive Mitarbeiter des renommierten Quarber Merkur und hat z. B. für die britische SF-Zeitschrift Foundation, die sowjetische Literaturnoje Obosrenije (Literarische Umschau), für den französischen Antares und für den fünfbändigen Survey of Science Fiction Literature (1979) geschrieben; der größte Teil seiner Publikationen im Westen ist allerdings zu DDR-Zeiten (aus naheliegenden Gründen) unter Pseudonymen erschienen, von denen er heute einige der Tradition halber fortführt.
Seine Leistungen als Übersetzer aus sieben Sprachen und als Autor geraten bei solchen Betrachtungen leicht etwas in den Hintergrund – nicht jedoch bei den Lesern, die nicht in Kategorien wie »Einfluß« und »Beitrag zum Selbstverständnis des Genres« denken: Die Gesamtauflage seiner drei SF-Erzählungsbände (einschließlich des ersten, gemeinsam mit Reinhard Heinrich verfaßten) liegt bei 220 000 in Deutschland, vier Buchausgaben in polnischer, schwedischer, bulgarischer und tschechischer Sprache brachten es zusammen auf über 160 000 Exemplare; Erzählungen und Essays von ihm (und gelegentlich seinen Ko-Autoren) sind in mindestens 14 Fremdsprachen erschienen.
Mit dem Ende der DDR war freilich auch für ihn die Zeit der hohen Auflagen vorbei. Während aber die meisten seiner ostdeutschen SF-Kollegen völlig oder fast völlig verstummten und sich nach einer Weile vor allem einige Romanautoren zurückmeldeten, die auch zu DDR-Zeiten schon besonders produktiv gewesen waren und für die Jugendbuchreihe »Spannend erzählt« geschrieben hatten, blieben auf dem Gebiet der kürzeren Formen praktisch nur Rolf Krohn und Erik Simon regelmäßig aktiv. Daß Simon an seine besten Leistungen aus DDR-Zeiten anknüpfen konnte, bestätigte in den neunziger Jahren auch der zweimalige Gewinn des Kurd-Laßwitz-Preises für die »Beste Kurzgeschichte« bzw. – gemeinsam mit seinen Ko-Autoren, den Steinmüllers – für die »Beste Erzählung«. Da er den Laßwitz-Preis auch zweimal in anderen Kategorien erhalten hat, ist er in dieser Hinsicht der erfolgreichste ostdeutsche SF-Profi, übrigens auch der einzige, der seinen Lebensunterhalt weiterhin mit SF verdient, wenn auch nun vor allem als Übersetzer und Herausgeber.
Während aber Rolf Krohn seit der Wende drei neue Erzählungsbände vorgelegt hat, datiert Erik Simons dritter und bisher letzter Band von 1987; etwa die Hälfte seiner Geschichten ist nur verstreut in Anthologien erschienen, weitere sind unveröffentlicht, und seine Neigung, Arbeiten mit Ko-Autoren wie auch Texte, die etwas am Rande der SF liegen, unter Pseudonym zu veröffentlichen, hat ihn als Autor noch zusätzlich »unsichtbar« gemacht. Der Shayol Verlag und die Herausgeber haben es daher unternommen, in einer Werkausgabe die in Erik Simons früheren Bänden enthaltenen Erzählungen wieder zugänglich zu machen und ihnen die bisher nur verstreut oder gar nicht publizierten zur Seite zu stellen.
Der Autor ist seinem Prinzip treu geblieben, seine Bände nach thematischen und stilistischen Gesichtspunkten zu komponieren. Die älteren Bände werden daher innerhalb der neuen als Kapitel bzw. Abteilungen wieder auftauchen, jedoch erweitert um Geschichten, die sich nahtlos in das jeweilige Konzept einfügen, und Seite an Seite mit völlig neu konzipierten Abschnitten. Eine chronologische Gliederung der Bände nach der Entstehungszeit oder der Erstveröffentlichung der Texte kommt daher nicht in Frage. Der vorliegende Band 1 Sternbilder umfaßt mit Simons erster SF-Geschichte »Marsmenschen gibt’s natürlich nicht« aus dem Jahre 1970 und der 2001 abgeschlossenen, bisher unveröffentlichten Erzählung »Spiel beendet, sagte der Sumpf« einen Entstehungszeitraum von gut drei Jahrzehnten, sein Schwerpunkt liegt aber doch bei den älteren Arbeiten.
Erik Simons erzählerisches Werk steht im Kontext einer Blüte der SF-Erzählung in der DDR, die in den 70er Jahren nach langer Vernachlässigung der kurzen Formen umso heftiger einsetzte und mit dem Auftreten einer ganzen Plejade neuer Autoren verbunden ist: Alfred Leman (anfangs mit Hans Taubert), die Brauns, Gert Prokop, Bernd Ulbrich, Erik Simon (anfangs mit Reinhard Heinrich), Rolf Krohn, die Steinmüllers (anfangs nur Karlheinz) – um nur jene von denen zu nennen, die zuerst in den 70er Jahren hervortraten und auch in den 80ern noch SF-Erzählungsbände publizierten. Unter ihnen allen ist Simon vielleicht der konservativste, was das Anknüpfen an Standardthemen der SF angeht, aber zugleich der experimentierfreudigste beim Umdeuten dieser Themen und beim Ausprobieren vielfältiger Formen und Stilmittel; das dürfte auch der Grund sein, warum er sich ausschließlich den kürzeren Formen widmet.
Schon im Abschnitt »Sternschnuppen 1«, wo wir einige seiner Frühwerke präsentieren, die bisher nicht oder nur in Fanzines veröffentlicht waren, sind diese Charakteristika von Simons Schaffen in Ansätzen zu erkennen. Vom Autor selbst als Miniaturen bezeichnet, sind die Geschichten direkt auf eine überraschende Wendung hin geschrieben – ohne die durchdachte, oft tiefgestaffelte Struktur, die seine späteren Erzählungen auszeichnet. Doch schon hier zeigt sich die bei Simon so typische Auseinandersetzung mit Ideen, Erzählmustern und Konventionen der Science Fiction, teils mit ernsthaftem Anspruch, oft aber mit der parodistischen Erzählhaltung, die besonders in seinem ersten Buch, dem zusammen mit Reinhard Heinrich verfaßten Zyklus Die ersten Zeitreisen (1977), vorherrscht. Auch wird schon in seinen Frühwerken die Neigung Simons deutlich, sich nicht nur mit allgemeinen SF-Themen auseinanderzusetzen, sondern manchmal auch ganz konkret auf Werke anderer Autoren Bezug zu nehmen: deren Grundidee aus anderem Blickwinkel zu beleuchten, weiter oder auch ad absurdum zu führen. Die Erzählung »Der Schuttabladeplatz« geht auf eine Idee von Wolfgang Köhler zurück, in »Die Sitzung« – hier im Abschnitt »Sternschnuppen 2« abgedruckt – greift er die gleichnamige Erzählung von Rolf Krohn auf, sein Erstling »Marsmenschen gibt’s natürlich nicht …« ist von einer Episode aus Heines »Harzreise« inspiriert. In seinem späteren Schaffen sollten aus dieser Motivation heraus einige seiner besten Geschichten entstehen: »Der Omm« – eine Inversion von Maupassants »Horla« – oder »Der schwarze Spiegel« nach Meyrinks »Die schwarze Kugel«.
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