Es soll im Folgenden ausschließlich die Fassade befragt werden, nicht die Institution, die sich hinter ihr formiert, das sogenannte Humboldt Forum, das ein Konzept exekutiert, das nach anhaltenden Diskussionen für diesen monumentalen Kulturort beschlossen wurde, ein modernes Museum für die außereuropäischen Kulturen. Die Geschichte des Berliner Schlosses, das an der entsprechenden Stelle einmal stand, sowie der Institution Humboldt Forum, die an die Stelle dieses Schlosses gesetzt wurde, hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten eben jenes Humboldt Forums, im Jahr 2019 in einem bilanzierenden Vortrag vor dem Posener kunsthistorischen Institut nachgezeichnet ( pressto.amu.edu.pl). Die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss publiziert zudem auf ihrer Website vielerlei Texte rund um das Gebäude und die Institution. Unabhängig von diesen Darstellungen und den vielfältigen Debatten, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen also nicht die Institution, die hier im Werden begriffen ist, sondern lediglich die Fassade, hinter der sich zu verbergen schon ihr Schicksal war, bevor die Idee eines Humboldt Forums überhaupt formuliert wurde.
Von Anfang an war in der Diskussion um die Fassade der ehemaligen Hohenzollern-Residenz bemängelt worden, dass deren Realisierung vollkommen unabhängig von der Nutzung eines hinter ihr entstehenden Gebäudes gefordert, forciert, schließlich erstritten wurde. Für die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes, Herrschaftsresidenz der Dynastie der Hohenzollern erst als kurfürstliches, dann als königliches, schließlich als Kaiserschloss, bestand ja offenbar kein Bedarf. Zur Eröffnung des Humboldt Forums im Dezember 2020 erinnerte der Tagesspiegel an das Befremden zweier mächtiger Berliner Kulturmanager jener Zeit, in der ein Aufbau der Fassade diskutiert wurde, die beide qua Amt in die Entscheidungen involviert waren:
»Noch 2016 stellte, im Nachhinein, Peter-Klaus Schuster, von 1999 bis 2008 Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlins, im Blick auf die Fassadenbefürworter irritiert fest: ›Keiner der Befürworter entwickelte eine überzeugende Idee, zu welchem Zwecke das von so vielen gewünschte Schloss wieder aufgebaut werden sollte (…)‹ Und Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wunderte sich: ›Niemand fragte nach dem Zweck, vielleicht ein Hotel, eine Shopping-Mall, ein Konferenzgebäude (…) es war eine hilflose Diskussion, ohne Bezug zur historischen Dimension.‹« (Gerd Appenzeller im Tagesspiegel am 1.12.2020)
Die konsequente Trennung von Fassade und Gebäude mag ungewöhnlich erscheinen, ist aber im vorliegenden Fall Teil des Programms und führt auf die Spur der Besonderheiten dieses Bauprojekts und seiner Geschichte. Der Standort, an dem es erst erträumt, dann debattiert, dann entworfen, schließlich realisiert wurde, ist offenbar mit derart komplexen und widerstreitenden Botschaften aufgeladen, Projektionsfläche für so viele, so unterschiedliche Visionen, dass das Ergebnis ein Kompromiss geworden ist, den manche feiern, eben weil es ein Kompromiss ist, und der andere aus demselben Grund verstört oder auch empört. Denn die Botschaft, die von diesem Kompromiss ausgeht, variiert extrem, je nachdem wer die Empfängerin ist oder der Empfänger. Wie diese Botschaft ausfällt, hat nicht nur damit zu tun, welche gesellschaftlichen, politischen, weltanschaulichen Positionen eine oder einer vertritt, sondern auch damit, was und wie viel man über die Geschichte der Fassade weiß. Deswegen lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit, in der diese Fassade von einer einflussreichen Gruppe offenbar als die angemessene Antwort auf eine historische, gesellschaftliche und städtebauliche Herausforderung für die Zukunft erschien: die Gestaltung der Mitte der gerade erst wiedervereinigten Hauptstadt des gerade erst vereinigten Deutschland.
Im Folgenden geht es um die Rekonstruktion einer Fassade als Rekonstruktion der Idee, die sie verkörpern soll. Es geht nicht um Polemik. Aber es geht schon um die Frage, was die treibende Kraft war und woraus sich die enorme Sicherheit, das überbordende Selbstbewusstsein und die Entschiedenheit der Beteiligten speiste, die dieses Projekt einer gigantischen Projektionsfläche als neuer Mitte einer wiedervereinigten Stadt vorangetrieben haben. Seine Rechtfertigung bezieht das Projekt nun daraus, dass es realisiert worden ist. Das heißt aber keineswegs, dass die Entscheidungen, die zu seiner Realisierung geführt haben, alle zwingend waren oder einleuchtend sein müssten oder auch nur für alle heute noch nachvollziehbar. Mit diesem Gebäude und dieser Fassade wurde künftigen Generationen eine andere als diese Gestaltung von Berlins Stadtmitte buchstäblich verbaut, sehenden Auges, denn auf diesen Aspekt des Projekts ist in der damaligen Diskussion immer wieder hingewiesen worden. Aber ganz offenbar war das das Ziel: eine Botschaft, die sich aus der Vergangenheit speist, soll in die Zukunft transportiert werden.
Ich bin kein Kunsthistoriker. Ich bin Historiker und Philologe. Daraus folgt ein Unterschied in der Betrachtungsweise der Dinge, schematisch gesprochen. Naturgemäß gibt es ungezählte Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die eine solche Unterscheidung in der Praxis obsolet machen. Aber sie kann vielleicht helfen, unterschiedliche Herangehensweisen zu charakterisieren. Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker nehmen demnach in der Regel die Objekte in den Blick, die sie zunächst analysieren, an und für sich betrachten und dann, mehr oder weniger weit zurücktretend, in Zusammenhänge einordnen. Sie sind im Interesse der Erkenntnis Objektfetischistinnen und Objektfetischisten, deswegen erreichen sie im Umgang mit den Objekten oft eine enorme Tiefe und finden über die Objekte viel heraus, im doppelten Sinne: über das jeweilige Objekt als Gegenstand, aber auch weit über das Objekt hinausgehend über die Welt. Philologinnen und Philologen dagegen denken in Strukturen, in die sie Objekte, Ereignisse, aber auch Ideen einordnen. Das kann eine Sprache sein, ein Text, aber auch ein anderer Zusammenhang, eine andere Struktur, eine Stadt zum Beispiel, eine Gesellschaft, die Geschichte. Sie sind eher Strukturalistinnen, Strukturalisten als objektorientiert. Das einzelne Bild, im konkreten Fall die Fassade der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (so der offizielle Name der Institution), entwickelt sein Potenzial als Untersuchungsgegenstand für philologisch geschulte Betrachterinnen und Betrachter erst als Teil von Zusammenhängen, also zum Beispiel als Moment in der Geschichte seiner Entstehung, als Baustein einer Mystifizierung, als politische Metapher, im Kontext der sich wandelnden Stadt oder der sich verändernden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse oder auch als Projektionsfläche einer Illusion.
La grande illusion. Die große Illusion . So hat der französische Regisseur Jean Renoir einen legendären Antikriegsfilm genannt, der, 1937 – also kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – gedreht, eine Geschichte aus einer Epoche erzählt, die offensichtlich damals schon als längst untergegangen wahrgenommen wurde: die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Protagonistinnen und Protagonisten geben sich der Illusion hin, dass bald Frieden sei, vielleicht ja sogar dauerhaft.
Die große Illusion . So hat der bereits zitierte Historiker Eckart Conze eine Interpretation des Friedens von Versailles genannt, das Ende jenes Ersten Weltkriegs, der den Rahmen für die Handlung von Jean Renoirs Film liefert und der auch das Ende des deutschen Kaiserreichs bedeutete. Conzes Buch trägt den Untertitel Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt . Es erschien 100 Jahre nach der für das 20. Jahrhundert so folgenreichen Proklamation eines Friedens im Spiegelsaal von Versailles, der Deutschland betreffende unter den sogenannten Pariser Vorortfrieden, die den Abschluss einer großen internationalen Konferenz in Paris markierten. Deren Protagonisten, und die wenigen Protagonistinnen (tatsächlich hatte die internationale Frauenwahlrechtsbewegung Delegierte nach Paris geschickt, um ihr Anliegen voranzubringen), gaben sich der Illusion hin, es sei möglich, aus widerstreitenden nationalen Interessen eine stabile internationale Ordnung zu schaffen.
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