Bubi nickte. Er betrachtete den Alten und schien ernsthaft über die Frage nachzudenken, was Sattler die ganze Sache wert sein könnte. Sattler selbst, kinderlos und ohne Verwandte im Dorf, war von Kiefers Antwort sichtlich verblüfft. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass jemand, den er kannte, versuchen würde, Kapital aus seiner Lage zu schlagen. Bisher war es immer eine Selbstverständlichkeit gewesen, dass man Hilfe erhielt und selbst auch half, wenn es an der Zeit war. Schließlich sieht man sich immer zweimal im Leben.
»Nun sag schon, Georg, was ist dir der Ausflug wert? Und vergiss nicht, so wie Anne und Bardo erzählen, muss es überall ziemlich chaotisch zugehen.«
Sattler war immer noch zu überrascht, um spontan auf Kiefers Angebot eingehen zu können.
»Weißt du was, Georg? Ich muss jetzt los, aber wenn du willst, komm ich morgen früh bei dir vorbei und dann sehen wir weiter. Oder, was meinst du?« Kiefer erhob sich und ließ Geld auf den Tisch klimpern. »Also bis morgen, in Ordnung?«
Sattler nickte.
»Und was wolltest du mir vorhin erzählen?«, fragte Bubi und zahlte ebenfalls.
»Erzähl ich dir morgen. Ich hol dich ab.«
Beim Verlassen des Gasthauses liefen die beiden Männer Susanne Faust in die Arme.
»Ist Papa drin?«, fragte sie.
Bubi schüttelte den Kopf.
»Hab ihn schon seit heute Nachmittag nicht mehr gesehen.« Susanne wirkte ratlos. Sie hatte gehofft, Frieder in der Wirtschaft zu finden und ihn mit nach Hause nehmen zu können. Eckard Assauer − oder Herr Mittwoch, wie Lea ihn getauft hatte − lag reglos im Gästezimmer und starrte in die Dunkelheit und Lea war erst vor einer halben Stunde endlich eingeschlafen. Das Kind wollte wach bleiben und auf seine Mutter warten. Susanne erklärte ihr, dass Eva sicher noch im Krankenhaus gebraucht werde und vielleicht erst spät in der Nacht heimkommen würde. Vielleicht auch erst am nächsten Tag. Aber Lea ließ sich davon nicht überzeugen. Erst als Susanne sie wie eine Erwachsene behandelte und an ihr Verantwortungsgefühl Herrn Mittwoch gegenüber appellierte, wurde Lea still. Sie überlegte kurz, dann rannte sie in das Gästezimmer und legte sich auf den Boden. Susanne brachte ihr eine Luftmatratze, Decke und ein Kissen.
»Du musst auf ihn aufpassen. Und wenn er nicht schlafen kann oder Angst hat, singst du ihm einfach ein Lied vor.«
»Kann ich noch meine Kassetten anhören?«
»Die sind drüben in deinem Zimmer. Außerdem ist doch kein Strom da.«
Susanne war danach ins Wohnzimmer gegangen. Sie setzte sich stocksteif auf die vordere Sofakante und wartete. Von oben hörte sie Lea Kinderlieder singen. Einige Male nahm Susanne gewohnheitsmäßig den Telefonhörer ab, um Frieder anzurufen. Stille. Sie war ins Wohnzimmer gegangen, wo sonst jeden Abend die letzten Stunden des Tages vor dem Fernseher vergingen. Stille.
Am Nachmittag hatte sie damit begonnen, den nutzlosen Gefrierschrank unten im Keller auszuräumen. Sie hatte das Wasser aus den Fächern gewischt und die vielen kleinen Päckchen mit Gemüse, Pizzen und Tupperdosen voller Soßen und Fleisch auf einem Tisch sortiert. Nach dem dritten Fach wurde ihr plötzlich die Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst. Warum tat sie das? All die aufgetauten Sachen würden in zwei, drei Tagen sowieso ungenießbar sein.
»Vielleicht macht er oben an der Absturzstelle noch irgendwas oder an der Leichengrube.«
»Jetzt noch?« Susanne sah sich auf der Straße um. Es war dunkel. Zu dunkel, um draußen noch irgendetwas erledigen zu können.
»Martin, kannst du mich vielleicht kurz aufs Hardt fahren? Nur schnell nachsehen, ob Frieder da irgendwo ist. Ob ihm nichts passiert ist.«
Kiefer nickte und drückte auf seinen Zündschlüssel. Auf dem dunklen Parkplatz vor der Wirtschaft, in den Fenstern standen Kerzen, die gespenstisch flackerten, blitzten die Blinker seines Wagens zweimal auf und die Zentralverriegelung klackte.
»Also los, steig ein«, und zu Bubi: »Wir sehen uns morgen.«
Kiefer und Susanne fuhren langsam den steilen Asphaltweg auf das Hardt hinauf. Das Fernlicht des Sportwagens schnitt für sie einen kleinen Teil der Dunkelheit aus, ein ständig wechselnder Scherenschnitt, schwarzes Papier mit einem kleinen Loch, das sich bewegte. Susanne hielt die Hände im Schoß. Schweigend saß sie neben Kiefer und suchte nach ihrem Mann.
Der Pick-up tauchte in dem Moment kurz im Scheinwerferlicht auf, als Kiefer durch ein Schlagloch fuhr und sein Wagen aufsetzte.
»Halt! Da war er, glaub ich!«
Kiefer setzte zurück, dann schaltete er den Motor ab. Im Xenonlicht vor ihnen schlief Faust mit offenem Mund, eine leere Flasche in der Hand, und schnarchte.
»Ich glaub, der hatte ein Bier zu viel«, konstatierte Kiefer und kickte die Kronkorken unter dem Fahrerfenster zur Seite.
Faust wurde kurz wach, als sie ihn mit vereinten Kräften − Kiefer zog, Susanne schob − auf den Beifahrersitz bugsierten. Dort angekommen, drehte er sich auf die Seite, legte die Hand unter seine Wange, schmatzte zufrieden wie ein kleines Kind und schlief weiter.
»Danke, Martin. Ohne dich hätte ich das nie geschafft.«
»Lässt ihn am besten im Auto schlafen heute Nacht.«
Susanne schien einen Moment über Kiefers Worte nachzudenken. Sie stand regungslos da und ihr Blick wirkte leer. Wenn man sich mit ihr unterhielt, war es manchmal, als könne man den Weg des eben Gesagten durch ihren Kopf verfolgen. Ein Satz kletterte durch Susannes Ohr in ihren Kopf. Nach wenigen Zentimetern musste dann die erste Schaltstelle sein, ein erster Filter, an dem die verschiedenen Wege abzweigten, die Problem, Witz oder Smalltalk hießen. Hier, in Susannes Augen konnte man förmlich ablesen, welche Mühe es sie kostete, das Gehörte einer Kategorie zuzuordnen, hier also zögerte das Gesagte einen Moment, dann war die Wertung geschafft und der Satz raste weiter, weiter bis zur zweiten Station. Auf der Witzstraße ging es nun um Differenzierungen wie Ironie, Satire, Zoten. Probleme mussten sich einer Dringlichkeitswertung unterziehen, die vielleicht von eins bis zehn unterschied. Demnach auch zehn neue Wege. In diesen Momenten war die Anstrengung, das Gehörte zuzuordnen, in Susannes Augen regelrecht greifbar. Was bei anderen ein routinierter Automatismus war, schien bei ihr bewusste Arbeit. Anstrengende Arbeit. Sehr anstrengende Arbeit. Hatte das Gehörte schließlich drei oder vier Schaltstellen hinter sich gelassen und war so weit eingeteilt, dass sie es verstand, öffnete sich in ihr eine kleine Antwortschublade mit der entsprechenden Reaktion, verbal sowie in Mimik und Gestik. Dieser Vorgang dauerte zwei, drei Sekunden, bei komplizierteren Botschaften aber auch deutlich länger. Aber irgendwann löste sich ihre Starre und sie antwortete. So auch jetzt.
»Frieder im Auto lassen? Die ganze Nacht?« Dann hätte sie allein in dem breiten Bett schlafen müssen, ohne seine gewohnten tiefen Atemzüge, ohne sein Schnarchen. Allein mit ihrer Angst, wach und ein sam im Dunkeln. »Kannst du mir nicht noch helfen, ihn schnell ins Haus zu tragen? Bitte, Martin.« Kiefer zögerte einen Moment. Es war bereits nach elf und er wollte in sein Haus, wollte wie jeden Abend die Treppe hinaufsteigen und in die beiden Zimmer gehen, von deren Existenz nur er etwas wusste. Susanne verschwand beinahe hinter dem riesigen Lenkrad des Pick-ups und blickte Kiefer fast flehentlich an.
»Bitte.«
»Also gut. Fahr du voraus.«
Zu dritt schleppten sie Faust ins Haus. Der bekam von allem nichts mit. Bubi hatte sich rechts und links die Beine seines Vaters unter den Arm geklemmt, Kiefer ächzte unter dem Gewicht des Oberkörpers. Susanne eilte mit einer Taschenlampe voraus ins Schlafzimmer. Sie warfen ihn aufs Bett. Susanne zog ihm die schmutzigen Schuhe aus und deckte ihn vorsichtig zu. Jetzt war sie zufrieden, jetzt würde sie die Nacht nicht allein verbringen müssen.
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