Von draußen hörten sie, wie der Bulle gegen einen der Schränke stolperte. Sie hörten sein Fluchen und den Lärm, den der zerberstende Glasschrank machte.
»Los! Weiter!« Ritter schubste Mehmet vor in die Dunkelheit, gegen einen Operationstisch.
»Was für’n Dreck ist das denn?!« Mehmet versank mit beiden Hän den im lauwarmen Gedärm eines Mannes, dessen Operation, als das Notstromaggregat ausfiel, ein jähes Ende gefunden hatte. Der allein operierende Chirurg und der Anästhesist hatten daraufhin alles stehen und liegen gelassen und waren ihren Kollegen gefolgt, die ihre Pa tienten schon lange im Stich gelassen hatten. Sie gingen zu ihren Familien.
Mehmet ahnte, worin sich seine Hände befanden. Er stand da wie paralysiert, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu einem klaren Gedanken und seine Stimme überschlug sich.
»Halt die Klappe!«, befahl Ritter, aber der Junge war nur noch Ekel und Angst. Er quiekte wie ein Schwein, dem man gerade die Hoden abgetrennt hat. Trotz der absoluten Dunkelheit hielt er die Augen fest geschlossen und Arme und Hände steif von sich gestreckt. Er ekelte sich, warmes Gewebe umspülte seine Finger und Flüssigkeiten und es stank so abscheulich!
Fuchs tastete nach dem Jungen und als er ihn gefunden hatte, packte er ihn an den Schultern und zog ihn weg. Etwas, das sich wie ein glitschiges Seil anfühlte, verhakte sich am Verschluss der dicken goldenen Kette, die Mehmet am Handgelenk trug und folgte ihm durch den Raum.
»Da ist noch was, da hängt irgendwas!!!«
Beck war mittlerweile auf der anderen Seite der Tür angelangt. Seine Finger ertasteten die kalte Lackierung der Tür und die harte Klinke. Und den kleinen Drehschalter genau darunter! Beck zögerte keine Sekunde. Er schloss die Tür ab und klemmte unter den nun quer liegenden Drehschalter den kleinen Wagen, den er neben der Tür gefunden hatte und in dem Spritzen, Kanülen und Ampullen lagerten.
Inzwischen hatte sich Fuchs entlang der kalt gefliesten Wände einmal komplett durch den Raum getastet. »Wir sitzen in der Falle«, schrie er.
»Blödsinn!« Ritter wollte ihm nicht glauben und humpelte nun sei nerseits die Wände entlang.
»Nehmt das weg, bitte«, wimmerte Mehmet, der stocksteif stehen geblieben war.
»Scheiße«, schimpfte Ritter und stolperte zurück zum einzigen Ausgang.
Fuchs stieß in der Dunkelheit plötzlich gegen Mehmet, der wurde von Fuchs zur Seite geschoben und das Etwas rutschte von Mehmets Handgelenk. Sofort stürzte der los und suchte die Tür. Egal, sollte dieser Bulle seinetwegen mit einem Panzer vor der Tür stehen, er wollte raus hier, musste raus, weg hier, weg, nur weg! Seine Hände waren mit einem dünnen Film überzogen. Endlich fanden sie die Klinke. Er drückte sie runter, warf sich gegen die Tür, zog an ihr, trat gegen sie, rüttelte und schrie − aber umsonst, der einzige Ausgang blieb fest verschlossen.
21:58 Uhr, Wellendingen, Hardt
Seit Stunden saß Frieder Faust nun schon in seinem Pick-up und starrte in die Landschaft. Das Ameisenheer von Eiseles Beerdigungstrupp hatte sich ins Dorf zurückgezogen, ebenso die Frauen, die zwei große Anhänger voller Gepäckstücke in die Schule gebracht hatten.
Der Sonnenuntergang vor einer Stunde war eine Symphonie auf das Leben gewesen: glutrot versank die Sonne und die Fetzen der Schönwetterwolken, die den ganzen Tag schon über das Land gezogen waren, leuchteten noch lang nach. Jetzt schwammen sie, graue Schatten, über den dunkelblauen Himmel. Der langsam auferstehende Sternenhimmel war klar und schön. Und voll kalter Realität, voll harter Fakten, denn es fehlten die schon so selbstverständlichen rhythmisch blinkenden Lichter der Flugzeuge. Es fehlten die Straßenlaternen unten im Dorf und es fehlte der Lichtschein der Städte im Umkreis, die zwar selbst nicht sichtbar, so doch als schwache Schimmer am Horizont oder als Reflexion in den Wolken allgegenwärtig waren. Und es fehlte eine Erklärung für das ausgebrannte Flugzeugwrack, das sich nur wenige hundert Meter entfernt aus dem Boden reckte.
Aber die Welt drehte sich offensichtlich weiter.
Es war der erste Abend einer neuen Zeitrechnung.
Jemand hatte den großen Hauptschalter umgelegt, ein Jemand, den keiner je zu sehen bekommen würde. Er hatte nicht einfach nur das Licht gelöscht, während der Kühlschrank weitersummte, nicht nur die Stereoanlage abgeschaltet und aus dem Nebenraum hörte man immer noch den Quizmaster im Fernseher. Nein. Mit unbarmherziger Konsequenz hatte jemand ganze Arbeit geleistet und aus Tag ward Nacht, aus unserem einundzwanzigsten Jahrhundert wurde im Handumdrehen finsteres Mittelalter. Aus Hell wurde Dunkel und aus lärmender Geschäftigkeit lähmende Ruhe.
Unter seinem offenen Fahrerfenster lagen inzwischen fünf Kronkorken und der sechste flog gerade hinterher. Gut, dass er die Bierkiste gestern Abend nicht mehr ausgeladen hatte.
Frieder hatte von seinem über dem Dorf gelegenen Beobachtungsposten aus zusehen können, wie die Menschen am Abend wieder im Gasthaus zusammenkamen. Ab und zu hatten sich die Lichtkegel eines Scheinwerferpaares durch den Ort geschlängelt. Aber er hatte keine Lust, zu ihnen zu gehen. Er wollte seine Ruhe, seinen gewohnten Alltag. Er wollte nicht in der vordersten Reihe stehen.
Da unten verschwand das Dorf langsam unter dem schwarzen Tuch der Nacht. Das war seine Heimat. Geburtsort und der Platz in dieser Welt, mit dem all seine Erinnerungen in irgendeiner Weise zu tun hatten. Wellendingen war sein Anfang, war sein Weg und vermutlich würde hier irgendwann auch sein Ende auf ihn warten. Dieser Ort und die Menschen hier hatten aus ihm den gemacht, der er heute war: ein Endvierziger, endlich geachtet und respektiert, Vater eines erwach senen Sohnes (Frieder nahm beim Gedanken an Bubi einen tiefen Zug aus der Flasche), Zimmermann und, wenn ihm nicht bald eine gute Ausrede einfallen würde, auch noch so etwas wie Ortsvorsteher.
Ortsvorsteher! Führer!
Blödsinn!
Morgen wird das große Lachen einsetzen! Alle werden vor ihren Fernsehern sitzen und sie werden miteinander telefonieren und sich halbtot lachen bei der Erinnerung an diesen Albtraum. Sie werden sich an ihren Schreck und die Angst, die sie heute umtreibt, nur noch dunkel erinnern, über ihr mangelndes Gott- und Staatsvertrauen lächeln und sich dafür schämen, dass sie bereit waren, auf einen wie Faust zu hören. Faust und ihr Führer! Ha!
Er hatte gelernt, sich im Hintergrund zu halten. Es war eine beinahe überlebenswichtige Maxime geworden, die Fausts Kindheit und Jugend geprägt hatte. Denn Unauffälligkeit bedeutete für einen, der nach Kuhstall roch und die abgenähten Kleider seiner älteren Schwestern auftragen musste, dass das Leben einigermaßen erträglich blieb. Unauffällig blieb er auch, als seine Altersgenossen schon längst ein Mädchen nach dem anderen abschleppten – Fausts unbeholfene Bemühungen wurden erst durch Susanne belohnt und sie wurde, selbst unauffällig, bald seine Frau. War das ein Fehler?
Er öffnete die Tür, stellte die Bierflasche auf dem Armaturenbrett ab und stieg aus, um Wasser zu lassen.
Die frische Luft und das Stehen machten ihn schwindlig. Nur mit Mühe schaffte er es, einigermaßen ruhig stehen zu bleiben, während er in weitem Bogen Richtung Dorf pinkelte. »Ich piss auf euch, Freunde!«, murmelte er angetrunken. »Ich piss auf euch und darauf, euer Oberguru zu werden!«, und es fiel ihm sichtlich schwer, das Gleichgewicht zu halten. Er hatte sich an diesen angenehmen Zustand gewöhnt, genau wie Susanne und Bubi. Er war dabei nie volltrunken, nein, Faust wuss te genau, wo seine Grenzen waren. Aber diese Grenze schlich sich je des Jahr ein kleines Stück weiter weg. Er brauchte immer noch ein wenig mehr, um diesen Zustand seliger Schwere zu erreichen, ohne den ihm ein Einschlafen am Abend inzwischen kaum noch möglich schien.
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