Beck war von dem stechenden Schmerz in seiner Hand überwältigt. Es hämmerte in ihr und sie war gefährlich angeschwollen. Und er besaß in seiner Wohnung nichts, mit dem er die Schmerzen hätte unterdrücken können. Er hatte an Dr. Stiller gedacht und an die schwache Hoffnung, dass der Arzt noch auf seiner Station sein könnte. Er zog sich um und warf die Kleidungsstücke aus dem Krankenhaus auf einen Sessel, suchte seine Turnschuhe raus und steckte die Gaspistole ein, die seit Jahren unbenutzt in seinem Kleiderschrank lag. Sie war alles, was ihm von seiner letzten Freundin geblieben war.
Für den Weg von der Wohnung zum Krankenhaus am anderen Ende der Stadt, ein Fußmarsch von drei Kilometern, hatte er über zwei Stunden benötigt. Er musste Straßensperren umgehen und vermied tunlichst jeden Kontakt mit den allgegenwärtigen Patrouillen. Alle Brücken der Stadt waren mit Straßensperren blockiert und mehrere Militärfahrzeuge patrouillierten durch die Stadt und unterrichteten die Einwohner von der verhängten Ausgangssperre, die bis Sonnenaufgang Gültigkeit haben sollte.
Beck war durch Kleingartenanlagen geschlichen und hatte einen Umweg gewählt, der ihm die unbeobachtete Durchquerung der Brigach, einem der Donauquellflüsse, ermöglichte. Auf den anschließenden Bahngleisen stand seit Stunden ein Güterzug.
Beck erreichte die Klinik Punkt halb zehn und war sofort das Treppenhaus hinaufgerannt, die verletzte Hand in einer Schlinge, und dort auf Mehmet gestoßen.
»Da wird sich Ritter aber freuen«, flüsterte der Junge jetzt. Seine weißen Zähne blitzten im Halbdunkel. »Hast dich fein gemacht Bulle, was?« Er versuchte Zeit zu gewinnen und überlegte, wie er an Beck vorbeikommen könnte. Er wollte die Pistole aus der Küche! Und danach würde er sich um den Bullen kümmern.
Beck zog mit der gesunden Linken die Gaspistole aus dem Gürtel. Mist, verdammter!, dachte Mehmet.
Er machte kehrt und hetzte die Stufen hoch. Ich muss Ritter warnen!
Ohne sich noch mal umzusehen floh er vor der vermeintlichen Bedrohung durch den Wartebereich und den langen Flur zur Intensivstation entlang. Fuchs schlug dort mit einem Feuerlöscher gegen die Glastür, während Ritter unbeteiligt danebenstand und sein Bein hielt.
»Der Bulle ist zurück!«, keuchte Mehmet schon von Weitem. »Er ist bewaffnet!«
»Hast du die Pistole?«
Mehmet schüttelte den Kopf. »Die ist noch in der Küche.«
Fast zeitgleich bog Beck am Ende des Flurs um die Ecke. Er war für die drei Männer nur als schwarzer Schatten wahrzunehmen, denn die Nacht war bereits in das Haus gekrochen.
»Wir sitzen in der Falle!« Fuchs warf den Feuerlöscher gegen die Glastür und riss eine Seitentür auf. Ein Besen kam ihm aus der kleinen Kammer entgegen und im schwachen Schein seines Feuerzeuges erkannte Fuchs, dass es nur ein winziger Verschlag mit Putzutensilien war.
»Los, hier rein!« Ritter war inzwischen zu einer massiven Doppeltür gehumpelt und hatte sie mit Mühe ein Stück weit aufgezogen. »Los! Kommt schon! Schnell!«
Sie tasteten sich durch einen geräumigen Saal mit mehreren Liegen und schmalen Glasschränken. Sie befanden sich in der sogenannten Schleuse, in der die Patienten von ihren Betten auf die OP-Tische umgelagert wurden, um anschließend in die Operationssäle gebracht zu werden.
Fuchs stieß mit dem Schienbein gegen das Metallgestell eines Operationstisches. Er fluchte gotteslästerlich und ließ das Feuerzeug fallen.
Beck, die auf größere Entfernungen nutzlose Waffe im Anschlag, näherte sich ihrem Versteck. Ihm war der Aberwitz dieser ganzen Situation, vor allem aber seine Chancenlosigkeit bei einem Frontalangriff der drei, durchaus bewusst. Er durfte nicht schießen! Jedenfalls nicht aus der Entfernung, denn, das war Beck klar, sie würden am Schussgeräusch der Waffe sofort erkennen, um was für eine es sich handelte. Und der fehlende Projektileinschlag wäre dann das i-Tüpfelchen auf ihren Verdacht.
Sie waren nach links verschwunden, soviel hatte Beck noch mitbekommen. Als er an die entsprechende Stelle kam, sah er die offen stehende Tür.
21:34 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Aufzug 2
Thomas Bachmann war erst vor wenigen Minuten eingeschlafen, als Mehmets Maschinengewehrsalve ihn weckte. Er schrak zusammen, umklammerte seine Beine und zitterte. Er fand sich weder in seinem Leben noch in seinem schwarzen Gefängnis zurecht.
Jetzt!!! Endlich!!! Jaaaaa! Nummer drei brach in Freudenrufe aus. Der Erlöser, er ist ganz nah, hihi, so naaah! Halleluja – er kommt, uns zu massakrieren! Ja, endlich! Reiß uns die verdammten Eingeweide raus und häng sie an den Weihnachtsbaum, oh du mein Herr und Weihnachtsmann! Los, hol die Knarre aus dem Sack, hihi, und strafe uns für unsre Sünden, lieber Weihnachtsmann. Hoho.
Thomas stieß sich beim Aufspringen den Kopf am Notruftelefon und torkelte zur Seite.
Und schon schlägt er uns mit seiner Rute den Schääädel ein, der Gute! Thomas blieb am Boden hocken und hielt sich den schmerzenden Kopf. Von draußen hörte er undeutlich zuerst Schritte, wenig später verschwommene Stimmen. Er hatte solche Angst! Er war allein, fühlte sich so unendlich einsam und hilflos und diese Angst, diese schreckliche Angst, sie fraß ihn auf, nagte an ihm.
Lieber, guter Weihnachtsmann / komm, wirf deine Knarre an! / Denn wir waren niemals brav / und nun ist Zeit für ew’gen Schlaf! Hihihi, dichtete die schrille Stimme in seinem Kopf frei nach einem alten Kinderreim.
Thomas hielt sich die Ohren zu. Und dann noch diese endlose Dunkelheit! Kein Schatten, kein Licht, kein Hoffen – nur Angst, Angst, Angst!!! Er begann zu wimmern, wimmerte leise wie ein einsames Kind, das erschöpft nach endlosem Rufen die Hoffnung aufgegeben hatte und nur noch leise weinen kann.
Hättest du doch die Treppe genommen, wie ich gesagt habe!
»Nein«, wimmerte Thomas, »bitte.«
Jedes Zeitgefühles beraubt, ohne Orientierung und Ausweg, konzentrierten sich alle Sinne in ihm auf das Hören. Und was er hörte, machte ihm Angst, mehr Angst als die Drohungen seiner Mutter, wenn er einmal wieder – Nebenwirkung eines seiner Medikamente – während des Essens eingeschlafen war (»Wir bringen dich weg!«), mehr Angst noch als Nummer drei: Schreckliches wird mit uns geschehen, huaaah.
Wer hatte geschossen? Und warum? Warum rettete ihn niemand? Warum ließ man ihn so allein?
Sein Wimmern wurde lauter, schon hörte man das undeutliche Schluchzen im Treppenhaus, da schrie er plötzlich aus vollem Hals …
Ja doch, zeig ihm, wo wir uns verstecken!
… Thomas sprang auf und schlug mit den Fäusten gegen die Stahltür seines Gefängnisses …
Nein! Nein! Wir stürzen ab!
… er sprang im Aufzug herum, verzweifelt, mit weit aufgerissenen Augen, die doch nur blind in die Dunkelheit starrten. Er schrie …
Lauter, hihi, wir müssen noch lauter schreien!
Nein, sei still! Oder vielleicht doch? Schrei etwas leiser, nur ein bisschen …
Lasst ihn! Er macht das schon richtig!
… schrie, bis ihm der Hals schmerzte und nur noch undeutliches Krächzen über seine Lippen kam. Noch zwei-, dreimal schlug er gegen die Kabinenwand, dann sank er auf die Knie und begann hemmungslos zu weinen. Gehört hatte ihn niemand.
Warum nur, warum?
Warum?
21:38 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, OP-Trakt
Mehmet stützte Ritter. Fuchs folgte ihnen aus dem schwarzen Raum auf einen neuen Flur, von dem aus es in die verschiedenen Operationssäle ging. Ohne Orientierung und ohne etwas zu sehen stolperten die drei Männer ausgerechnet in den einzigen fensterlosen Raum des ganzen Traktes. Gestank schlug ihnen entgegen. Fuchs zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich schwer atmend dagegen. Das Geldbündel war noch da. Sehr gut.
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