Dann beantwortete Glück Evas Frage. »Wenn ich endlich gestorben bin, wird meine Frau Tabletten nehmen.« Eva sah auf. Glück nahm ihre Hand. »Wir haben das schon vor Jahren so entschieden, Schwester und damals war ich noch gesund. Olga und ich, wir lieben uns seit fünfundfünfzig Jahren.« Seine Augen leuchteten, als er weitersprach. »Sie war sechzehn bei unserer ersten Begegnung und ich siebzehn.«
Glück begann, Eva von seiner Kindheit in Moskau zu erzählen, von der riesigen Wohnung, mit Wänden und Fenstern so hoch, dass sie ihn immer mehr an eine Kirche denn Wohnung mahnten, und von seinem Vater, der als Wissenschaftler gearbeitet hatte. Als Hitler seine Kolonnen gen Moskau in Gang setzte, um Bolschewismus und Judentum auszurotten, war es von einem Tag auf den anderen vorbei mit Wohlstand und dem unbeschwerten Leben Aleksandrs. Man unterstellte den Deutschstämmigen, dass sie dem Angreifer näher stünden als dem Land, in dem sie geboren waren und lebten. Glück und seine Eltern wurden in ein sibirisches Lager deportiert und erst nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges 1945 erlaubte man ihnen unter strengen Auflagen, sich in einem kleinen sibirischen Dorf anzusiedeln. Glücks Vater durfte in einer Kolchose Schweine hüten, seine Mutter häkelte kleine Decken und Vorhänge, die eine Nachbarin einmal im Monat mit auf den Markt in die Stadt nahm und dort für sie verkaufte, denn eine der Auflagen für die Beendigung der Lagerhaft war, dass sie die engen Grenzen des Dorfes und seiner morastigen Wiesen und Wälder nicht verlassen durften. Da sei er aufgewachsen, erzählte Glück und trank einen Schluck Mineralwasser.
»Es war nicht leicht, Schwester, besonders nicht für meinen Vater. Er starb auch früh, vielleicht weil er nicht verwinden konnte, dass er Schweine zusammentreiben musste statt neue Formeln zu entwickeln. Aber ich hatte trotzdem eine schöne Kindheit, weil meine Eltern mich liebten. Und weil sie sich liebten, so wie Olga und ich.« Eva erhob sich.
»Oh, Sie haben zu tun und ich halte Sie auf mit meinem Geschwätz!«
»Nein, nein, ich wollte mir nur einen Stuhl holen.«
Der Patient im Nachbarzimmer war inzwischen verstorben. Eva ahnte es, aber sie wollte nicht mehr zu ihm, wollte nicht noch einem Menschen ein Tuch über das Gesicht legen müssen.
»Bitte, erzählen Sie weiter! Es tut gut, Ihnen zuzuhören.«
»Und ich langweile Sie wirklich nicht?«
»Nein. Im Gegenteil.«
»Und wo war ich stehen geblieben?«
»Sie wollten erklären, was es mit den Tabletten auf sich hat«, sagte Eva.
»Ja richtig! Und ich erzähle von Sibirien!« Glück spielte den Entrüsteten und kratzte sich am Kopf. »Verzeihen Sie einem alten Mann, Schwester?« Eva nickte.
»Olga und ich, wir sind inzwischen schon so lang beieinander, dass wir uns schon lange kein Leben mehr ohne den anderen vorstellen können. Sie ist mein Leben, wissen Sie, und ich bin ihres. Wir würden ohne den anderen eingehen und vor Kummer dahinsiechen. Wir wa ren noch so jung damals, als wir heirateten, sie achtzehn, ich ein Jahr älter. Fünfundfünfzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, mehr als viele Men schen leben, und in all den Jahren haben wir uns nie gestritten, fiel nie ein böses Wort. Deshalb haben wir einen kleinen Vorrat an Schlaftabletten gesammelt und uns versprochen, dass der, der das Pech hat übrig zu bleiben, nicht lang allein bleiben wird. Mein Leben hätte ohne sie keinen Sinn, Schwester. Ich würde nur anderen, fremden Menschen zur Last fallen und keiner wäre da, der nach mir sieht. Das wäre kein Leben mehr. Olga denkt genauso. Wir sind unser Leben und an dem Tag, an dem kein Wir mehr existiert, wird leben zum Warten auf den Tod. Warum dann also nicht selbst ein wenig Schicksal spielen?«
Glück legte eine Denkpause ein und stützte den Kopf in die hohle Hand. Er sah aus wie ein alternder griechischer Dichter. Sie saßen eine Weile da ohne zu reden.
»Haben Sie keine Kinder?«, fragte Eva schließlich.
Glück zögerte, dann antwortete er: »Wir haben zwei Söhne.«
»Sie sind nicht hier?«, fragte Eva.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, Nikolaj und Wanja sind schon vorausgegangen«, erklärte er.
»Wohin voraus?«, fragte Eva, obwohl sie die Antwort ahnte.
»Dahin, wo ich sie endlich bald wieder in die Arme schließen kann«, antwortete Glück und lächelte.
»Wie …«
»Nein«, lachte er, »jetzt ist es genug! Ich rede und rede und dabei wird es schon dunkel und Sie haben noch nichts zu Abend gegessen!« schimpfte er und drohte mit einem ausgemergelten Zeigefinger.
»Ich habe keinen Hunger.« Ihre Antwort klang halbherzig.
»Sie müssen aber etwas essen, Schwester! Wenn schon nicht für sich, dann wenigstens für Ihr Kleines.« Er sah sie an und streckte die Hand nach ihr aus. Eva ergriff sie.
In diesem einen Moment, als ob die Berührung eine Tür in ihr aufgestoßen hätte, begann sie zu weinen. Zuerst waren es nur einzelne Tränen, die ihr über die Wangen rollten, aber bald begann sie zu schniefen und schluchzte und als Glück sich zu ihr nach vorn beugte und sie mit vor Schmerzen verzerrtem Gesicht in die Arme nahm, brachen sich die Ängste und Anspannungen dieses Tages Bahn und sie begann hemmungslos zu weinen.
»Wein nur, Schwesterchen. Weine.«
Sie hatte sich den Tag über mit Arbeit betäubt und seit dem Stromausfall nichts gegessen und nur wenig getrunken. Sich dafür aber mehrmals übergeben. Um sie herum waren zwei Dutzend Menschen gestorben, inzwischen vielleicht schon mehr, und nur Gott allein wusste, wie es in der Stadt draußen aussah, wie in der Welt. Wie bei Lea und Hans. Sie war Stunde um Stunde von einem Patienten zum nächsten gerannt, als alle anderen längst gegangen waren und Stiller war mehr Belastung dabei denn Hilfe.
War dieser Tag die Wirklichkeit? Sie schluchzte, als sie wieder an Ritter und Mehmet dachte und wie dieser auf die Leiche nebenan geschossen hatte. War das die neue Realität? War dieser Tag so wirklich wie das Gestern, mit seinen Abendnachrichten und blühenden Wiesen und dem Telefonat mit Hans? War dies das neue Leben, waren Ritter und Mehmet, der trockene Wasserhahn und die blinden Lampen das Morgen und Übermorgen? Eva hatte so abgrundtiefe Angst, fühlte sich verlassen und einsam und wünschte, Hans wäre bei ihr und könnte sie trösten! Nein, sie wollte nicht, dass dies alles wahr sei, dass sie mit Glück hier saß, während sich ringsum die Leichen stapelten. Dies alles durfte einfach nicht wirklich sein und deshalb war sie weitergerannt, immer weiter über die Station geeilt, für alles verantwort lich, allein verantwortlich – nur, um nicht anhalten und nachdenken zu müssen. Sie wollte nicht sehen − aber jetzt, mit geschlossenen, nassen Augen, jetzt begann sie zu sehen. Und was sie sah, machte ihr unsagbare Angst!
»Bleiben Sie heute Nacht hier. Hier sind Sie sicher.«
Aleksandr Glück schlug Eva ein gemeinsames Abendessen vor.
»Kommen Sie, tun Sie einem alten Mann den Gefallen, Schwester. Es ist vielleicht mein letztes Abendessen und«, er verzog das Gesicht, »bisher habt ihr mir ja immer nur Suppe und Brei gegeben.«
»Ich weiß nicht, ob ich etwas finde. Vielleicht ist ja gar niemand mehr in der Küche.«
»Sie werden uns schon was Feines mitbringen.« Glück war zuversichtlich.
»Also gut.« Eva erhob sich. Sie warf das tränendurchnässte Stück Zellstoff in den Mülleimer. »Was wünschen Sie sich? Worauf haben Sie Appetit?«
»Weißbrot!«, kam es prompt. »Und einen kräftigen Camembert, wenn Sie welchen finden. Wissen Sie, der ist schön weich. Und dazu würde am besten ein Glas Rotwein passen. Haben die hier so was?«
Eva nickte.
»Ich kann Sie wirklich allein lassen?«
»Natürlich, Schwester. Außer dem kleinen Doktor ist doch keiner mehr da, der mir etwas tun könnte, oder?« Das stimmte.
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