Aber wenn sie die Scheiben einschlagen, kann einer von ihnen hereinklettern.
Sie rannte zurück in den Aufwachraum und sah sich um. Aber die Regale und Schränke, die als Barrikade infrage kämen, waren fest eingebaut. Einige Stühle und Hocker standen herum, sonst nichts.
Fast nichts!
Ohne weiter nachzudenken bückte sie sich und packte die Leiche einer alten Frau an den Armen. Die Frau war schwerer als Eva vermutet hatte. Sie war schon fast kalt und als Eva sie auf die Bettbarrikade stemmte, schlugen ihre Arme wie Pendel gegen Evas Beine. Aber Eva wusste, dass dies ihre einzige Chance war. Sie musste sich verbarrikadieren, quasi mit Leichen einmauern, um die Verrückten fernzuhalten. Sie musste das Kind retten, sich retten. Hans weiß doch noch gar nichts von dem Baby!
Ihr war schwindelig – vor Hunger, vor Anstrengung, wegen des Kindes in ihr. Aber sie ging zurück und zerrte einen Mann mit offener Operationswunde aus seinem Bett und über den glatten Boden zur Tür. Leiche um Leiche zerrte sie durch den Raum. Weiter und immer noch eine. Evas Arme schmerzten und ihr rann der Schweiß vom Körper und ihr Geruch vermischte sich mit dem Geruch von Erdbeercreme und Tod und Blut.
21:32 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen
Fuchs und Mehmet hatten den deutlich längeren Weg durch den Speisesaal genommen. Auch sie waren die Treppen hinaufgerannt und als sie den Raucher trafen und ihn fragten, wo die Schwester hin wäre, begann dieser, über seinen vollen Urinbeutel zu schimpfen und dass er nie wieder in diese Klinik gehen würde. Mehmet rannte einfach auf gut Glück einen (falschen) Flur entlang, Fuchs folgte ihm, als Ritter den Wartebereich erreichte.
»Hier entlang, ihr Idioten!« Ritter humpelte auf Evas Versteck zu. Als er, Fuchs und Mehmet fast gleichzeitig die Tür erreichten, schraken sie zurück: durch die Milchglasscheiben hindurch grinsten sie die Grimassen der Toten an.
Eva brachte auf der anderen Seite der dünnen Tür eine weitere Tote und zerrte sie auf den Leichenberg. Da hörte sie, wie durch einen Vorhang gedämpft, die Stimme des kleinen Türken.
»Die spinnt, die Tussi, die hat sie nicht alle!« Seine Stimme überschlug sich. »Die hat sich mit Toten verbarrikadiert!«
»Gut beobachtet«, lobte Ritter und humpelte einen Schritt zurück. »Komm, du schießt doch so gern.« Er hielt Mehmet die MP hin.
Der riss ihm die Waffe aus der Hand und begann unmittelbar zu ballern. Die ersten Projektile bohrten sich in die Decke, die nächsten holten große Stücke Putz von den Wänden, bevor Mehmet endlich die Tür traf. Zwei Kugeln fanden ihr Ziel, eine davon zerbeulte nur den Türrahmen, die zweite traf die rechte Scheibe. Sie durchschlug sie und dünne Risse mäanderten wie feine Äderchen nach allen Richtungen. Dann gab die Waffe nur noch hohles Klicken von sich.
»Verdammter Dreck!«, schrie Mehmet und warf die MP zu Boden.
»Leer?«, fragte Fuchs süffisant.
»Ja, Mann, siehst du doch!«
»Und die restliche Munition liegt im Wagen. Und mit dem sind Mario und Alex sicher längst über alle Berge.«
»Und wo ist meine Bullenpistole?«, fragt Mehmet.
»Die liegt unten in der Küche auf dem Tisch!«, sagte Ritter.
Mehmet rannte wie ein Verrückter den dunklen Flur zurück. Als er ins Treppenhaus einbog und die ersten sieben Stufen in einem Satz nahm, kam ihm ein Mann entgegen, den er zuerst nicht erkannte, wegen der Dunkelheit und der privaten Kleidung, die der jetzt trug. Es war der Mann, den Ritter jagte!
Vor ihm stand Joachim Beck, der Bulle!
Beck war mindestens genauso überrascht wie der kleine Türke. Beide blieben wie angewurzelt stehen. Sie taxierten sich in dem spärlichen Restlicht, das noch durch die hohen Fenster ins Treppenhaus sickerte. Keiner sagte ein Wort, keiner bewegte sich. Mehmet, fünf Stufen oberhalb von Beck, hatte den Vorteil eines Angriffes von oben auf seiner Seite, während Beck dem Teenager an Kraft und Kampftechnik überlegen war. Also stand es unentschieden.
Beck war am Nachmittag wie betäubt durch Donaueschingen getorkelt, benommen von der Todesangst, die er neben der Leiche hatte ausstehen müssen. Wäre diese Krankenschwester nicht gewesen, Ritter hätte ihn sicher erlegt wie ein kränkelndes Stück Wild.
Er war an geplünderten Banken vorbeigekommen und an Supermärkten, aus denen biedere Rentner bergeweise Toilettenpapier schleppten und Kinder sich hemmungslos an der Seite ihrer Eltern bedienten. Ein Mann, der Kleidung nach Handwerker, montierte in einem Geschäft in aller Seelenruhe das gesamte Regalsystem ab und verstaute es in seinem Kleinbus. Vom Eigentümer oder Geschäftsführer war weit und breit nichts zu sehen. Joachim Beck taumelte weiter, vorbei an der Stadtkirche, in die Menschen strömten, um zu beten. Sie zündeten Kerzen an, die die Chancen ihrer Gebete eine Etage weiter oben verbessern sollten.
Das Fürstlich Fürstenbergische Schloss glich einem Selbstbedienungsladen. Vor dem Portal parkten Kleinlaster und Pkw mit Anhänger und immer mehr Menschen kamen, durchsuchten die prunkvollen Säle und Aufgänge und nahmen mit, was ihnen brauchbar oder wertvoll erschien. Oder einfach nur schön.
Beck war sich der geänderten Zeiten und auch seiner Ohnmacht durchaus bewusst. Er ignorierte das Chaos und die Gesetzesübertretungen, die an diesem Tag aus vielen bisher unbescholtenen Bürgern gemeine Verbrecher machten. Selbst wenn er gewollt hätte – ohne Uniform, ohne Waffe, Dienstausweis und ohne seine Kollegen war er machtlos, allein und ein Nichts.
Er erreichte seine Wohnung. Den Schlüssel hatte er, wahrscheinlich zusammen mit seinem Geldbeutel und der Dienstmarke, irgendwo zwischen Sparkasse, Polizeirevier und Krankenhaus verloren. Mit dem einen noch vorhandenen Schuh trat er die Tür ein. Passende Schuhe hatte Eva nicht gefunden, nur eine graue Bundfaltenhose mit Bügelfalte und einen ausgewaschenen roten Pullover, die sie ihm, während er aufgeregt und zitternd in dem kleinen Aufenthaltsraum der Station Kaffee getrunken hatte, unter die Nase gehalten hatte.
»Ziehen Sie das an«, hatte Eva gesagt. »Es ist besser als das, was Sie noch am Leib haben.« Womit sie zweifellos im Recht war. Seine Uniform hing in Fetzen an ihm, teilweise blutverschmiert und kaum noch als das zu erkennen, was sie vor wenigen Stunden noch gewesen war: Symbol von Recht, Ordnung und Freiheit in diesem Land – die staatliche Gewalt. Wo war diese Gewalt jetzt?, hatte er überlegt, als er seine Wohnung betrat. Wohin ist plötzlich der Staat?
Die vier Schmerztabletten, die Eva im noch in die Hand gedrückt hatte, waren zu diesem Zeitpunkt aufgebraucht. Bis auf eine. Aber dafür spürte er wenigstens seine schiefe Nase nicht mehr und konnte seine rechte Hand einigermaßen ertragen. Die Schnittwunden, die er sich zugezogen hatte, als er Ritter die Scherbe ins Bein stieß, waren noch immer unbehandelt. Dr. Stiller war unauffindbar gewesen. »Das können wir später machen«, hatte Eva gesagt, »Kommen Sie später wieder, wenn sich alles vielleicht irgendwie normalisiert hat.« Aber der Klang in ihrer Stimme hatte ihm verraten, dass auch sie nicht an eine Normalisierung glaubte.
Er hatte ein Glas Mineralwasser getrunken und damit die letzte Schmerztablette hinuntergespült. Danach war er auf dem Sofa eingeschlafen.
Gegen sieben wurde Joachim Beck von schweren Dieselmotoren geweckt. Aus der nahen Kaserne, in der die Jägerbataillone des deutsch-französischen Corps stationiert waren, rückten kleine Panzerfahrzeuge, Mannschaftsbusse und Sanitätswagen aus. Spät hatte sich die von allen Verbindungen abgeschnittene militärische Führung für den Einsatz entschieden, den sie auf Straßensperren und Patrouillen beschränken wollte. Martialisch Bewaffnete mit nutzlosen Funkgeräten an der Brust marschierten nun durch Donaueschingen, Gewehr im Anschlag, und weckten Beck.
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