»Ich frag die nach diesem Ivo aus. Komm, such da jetzt. Ich brauche sowieso noch einen Fall für meine Hausarbeit, und da ist ein Stalker doch zehnmal besser als irgend so ein Fremdgeher.«
»Ist ja gut.« Kai tippte wieder. »Ich glaube nicht, dass wir da irgendwas außer der Firmenadresse finden werden.«
Fünf Minuten später hatte sich diese Befürchtung bewahrheitet. Kai griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Brülli? Bist du das, alter Hengst?« Kai zeigte Ben ein breites Grinsen und einen gehobenen Daumen. »Bist du auf Arbeit, Alter? Gut! Dann tipp doch mal Isana von Dauss ein, und sag mir, wo die wohnt.« Er blieb einige Sekunden still, dann sagte er: »Ja, ist mir klar. Und jetzt mach!« Er verschraubte die Augen in Richtung Ben, dann fuhr er fort: »Nichts? Und Richard von Dauss? … Ja, der Hüttenking.« Wieder folgten einige Sekunden Stille »Nee, die private … Warte, schreib ich auf.« Er notierte eine Adresse und eine Telefonnummer auf einem Post-it-Zettel. »Super, Brülli, danke! Hast einen gut bei mir. Lass mal wieder einen heben!« Dann legte er auf.
»Was war das denn, bitte schön?«, wollte Ben wissen.
»Das war Holger Brüllman, Brülli. Alter Kumpel von mir. Arbeitet bei Cater Carlo.«
»Kater Carlo?«
»Nicht Kater. Cater . Das ist doch dieser Cateringservice in Mitte. Klar, dass du den nicht kennst. Ist ja auch für gehobene Ansprüche.« Er gluckste fröhlich. »Beliefern auch die VIP-Lounge beim BVB und so. Ich dachte mir, der von Dauss hat da bestimmt schon mal was bestellt.«
»Clever«, musste Ben zugeben, doch Kai winkte mit einer lässigen Handbewegung ab, dann sagte er: »Wollen wir gleich los? Ich will diese Isana mal live sehen.«
Das Haus lag an einer wenig befahrenen Straßenecke in Gartenstadt. Ben kannte sich hier aus, denn sein Elternhaus lag nicht weit von hier entfernt in der Stangefolstraße. Als Kind hatte er sich in jeder dieser Straßen mindestens einmal blutige Knie geholt. Er konnte sich daran erinnern, dass zwei Häuser neben dem vom Hüttenking Ulli Wenderka gewohnt hatte. Ein Idiot, aber der Einzige mit einem Tangoball und einer Nintendo 64.
Offensichtlich war das Haus erst in den letzten Jahren saniert worden. Ben hatte es noch mit ockerfarbenen Klinkern und falschem Schieferdach in Erinnerung. Heute war es strahlend weiß verputzt und mit kleinen Fenstern versehen, die im Erdgeschoss allesamt vergittert waren. Das Obergeschoss steckte unter einer glänzend blau geziegelten Dachschräge, die unwillkürlich die Blicke auf sich zog. Ben lenkte seinen Ford Fiesta an den von der Straße aus zugänglichen Häuserseiten vorbei in die parallel verlaufende Nebenstraße und parkte dort am Straßenrand. Seine Karre passte neben den ganzen chromblitzenden Vehikeln genauso gut ins Bild wie Mary Roos als Vorgruppe von Justin Biber. Ben und Kai stiegen aus und gingen die Straße entlang. Ein kastenförmiges Mehrfamilienhaus verdeckte die Sicht auf die Rückseite des Hauses, in dem Richard von Dauss wohnte.
»Komm, wir gucken uns das Haus erst mal von hinten an«, schlug Ben vor, dem der Gedanke, an der Haustür der von Daussens zu klingeln, unbehaglich war.
Kai hatte nichts einzuwenden und folgte Ben den schmalen Pfad entlang, der hinter die Nobelmietskaserne führte. Eine breite, undurchsichtige Hecke trennte den adretten, kleinen Garten vom Dauss’schen Grundstück. Ben fuhr mit dem Kopf dicht vor der Hecke hin und her, um eine Lücke zu finden, durch die er einen Blick auf das Haus erhaschen konnte.
»Guck mal hier«, sagte Kai, der sich hinter einige wohlgeformte Zypressen gedrückt hatte, welche sich als kleines Grüppchen dem Ende der Hecke anschlossen. »Von hier aus kann man genau in den Garten gucken.«
Ben quetschte sich ebenfalls hinter die Zierpflanzen und sah, dass es nicht viel zu sehen gab. Zwei steril wirkende, blütenweiße Hauswände mit drei winzigen, vergitterten Fenstern, eine Verandatür und sechs Kellerfenster, welche mit weißen Schutzgittern versehen waren. Davor eine leere Rasenfläche, die komplett von einer gut drei Meter hohen und undurchdringlichen Hecke umrandet war. Nur an einer Stelle gab es eine mannshohe geschmiedete Eisentür, durch die man den Garten auch von der Straße aus betreten konnte.
»Die stehen wohl nicht so auf natürliches Licht in den Räumen«, sagte Ben.
»Und nicht auf wilde Gartenpartys, wie es aussieht.«
»Guck dir mal das eine Kellerfenster da an. Ist das Pappe, die davorhängt?«
»Sieht so aus. Vielleicht ist das kaputt oder es wurde eingebrochen.«
»Wäre eine Möglichkeit. Und guck mal hier.« Ben deutete auf den Boden unmittelbar vor ihren Füßen. »Diese Aussicht hier fand schon mal jemand interessant.« Auf dem Boden lagen einige Zigarettenstummel, alle nur bis zur Hälfte geraucht. Kai bückte sich und hob mit spitzen Fingern eine der Kippen auf. »Sunny & Stein«, sagte er bedeutungsschwer. Dann: »Okay, es muss mehr als einen Typen geben, der diese Dinger quarzt. Aber wenn du mich fragst, ist das hier einer der Wohlfühlplätze von diesem Sunstein. Man weiß nur nicht, wie lange die hier schon liegen.«
»Doch«, antwortete Ben und fühlte sich für den Moment wie Hercule Poirot und Adrian Monk in einer Person. »Am Sonntagabend hat es den ganzen Tag wie aus Kübeln geregnet. Diese Kippen können also bestenfalls seit Montag hier liegen.«
»Sind Sie von der Polizei?«, ertönte eine knarzende Frauenstimme hinter ihnen.
Kai zuckte vor Schreck zusammen, doch zum Glück lenkte er diesmal keinen fliegenden Fotoapparat. »Ja, natürlich«, stieß er mit einem gereizten Tonfall in Richtung der grauhaarigen Alten aus, die soeben in ihr Sichtfeld trat. Sie trug einen in die Jahre gekommenen, grauen Mohairmantel, unter dessen unterem Rand gut fünf Zentimeter einer geblümten Kittelschürze sichtbar wurden. Das Fleisch ihrer zart-lila schimmernden Beine wurde von fleischfarbenen Nylonstrümpfen abgequetscht, die sich in schmutzig-weißen Gesundheitslatschen verloren. Sie paffte an einer Zigarette und hielt einen aufgewühlten Rehpinscher, der Ben und Kai angriffslustig anstarrte, an der kurzen Leine.
Ruhrpottoma, dachte Ben, und Kai sagte mit dem Duktus eines coolen TV-Bullen: »Haben Sie etwas beobachtet?«
»Hab ich euch doch schon alles erzählt, hömma«, spie die Alte aus, bevor sie einen rasselnden Hustenanfall bekam, der erst enden wollte, als sie sich dreimal laut hörbar mit der Faust auf die Brust geprügelt hatte. Der Rehpinscher bellte dazu und sprang an seiner kurzen Leine wild im Kreis umher.
»Ich würde Sie bitten, alles noch einmal zu wiederholen. Sehen Sie«, er wies mit ausgestreckter Hand in Richtung Ben. »Hauptkommissar Pruss ist extra aus Wiesbaden angereist, um sich persönlich ein Bild zu machen. Also?«
Ben hätte beim Wort »Hauptkommissar« am liebsten auch einen Kröchelanfall bekommen.
»Wenn Se meinen. Gibt Schlimmeres.« Sie sah sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck an, der »Schlimmeres« eindeutig auszuschließen schien. »Ich muss ja abends immer raus, hier mit meinem kleinen Fleischwolf.« Sie lachte krächzend und riss demonstrativ an der Leine, was Fleischwolf zwang, einen Satz nach links zu machen. »Früher brauchte ich um acht das letzte Mal, aber der ist ja schon vierzehn, der Alte, ne? Bin ma gespannt, wer von uns beiden et länger macht.« Sie machte eine Pause, und Ben glaubte schon, sie wolle hier und jetzt warten, wer von beiden es wohl länger machen würde, als sie doch wieder das Wort ergriff: »Ich war jedenfalls abends draußen für Pipi. War gar nich ma so spät. Kurz nach elf.«
»Gestern Abend?«, fragte Ben.
»Wat? Gez wolln Se mich wohl auf’n Arm nehm. Gestern war ich natürlich auch um kurz nach elf draußen wegen Pipi, aber dat wolln Se ja nich von mir wissen, oder?« Sie sah Ben an, als wäre er komplett dem Wahnsinn verfallen. »Sie sind doch hier wegen dem Einbruch am Montag, oder?«
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