Ben war komplett erstarrt. Er sah das Fluggerät eine letzte waghalsige Rollenkehre vollführen, dann prallte es mit einem ungesunden Pong an die Regenrinne und stürzte ungebremst zu Boden. Direkt neben Kai, der ein weiteres »NEIN!« kreischte und nach wie vor die Arme gen Himmel reckte, als wollte er Gott nach einer dreimonatigen Dürre um ein Tröpfchen Regen anflehen. Ben spürte beim Aufprall einen Schmerz, als wäre die Drohne nicht auf die Waschbetonplatten, sondern ihm direkt auf den Kopf gefallen. Kai sank auf die Knie und stieß ein herzzerreißendes Heulen aus, bei dem er sich mit beiden Armen selbst umarmte. Dann drehten sie gleichzeitig ihre Köpfe in Richtung der Dame, die mit wenigen Worten, ausgesprochen im feinsten Dorstfelder Ruhrdeutsch, großes Leid über Bens Mitbewohner gebracht hatte.
Auch sie stand wie angewurzelt da und verzog das Gesicht in blankem Entsetzen. »Ach du Scheiße«, stieß sie atemlos aus und versuchte ein unschuldiges Grinsen.
»Mmmh. Dieser Typ kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Ben, als sie, zurück im Büro, die Bilder von Kais Drohne auf dem Monitor betrachteten. Die Kamera war beim Absturz genauso draufgegangen wie der Rest des Fluggeräts, doch zu Bens Erleichterung konnte die SD-Karte unversehrt geborgen werden. »Ich habe die Blackbox gefunden«, hatte Ben triumphierend ausgerufen, als er noch am Absturzort die Karte aus dem zerbrochenen Kameragehäuse entfernt hatte, und sich damit einen vernichtenden Blick von Kai eingehandelt. Dieser hatte in Windeseile die fünf Phasen der Trauer nach Kübler-Ross hinter sich gebracht:
1. Das Leugnen (noch bevor er die Absturzstelle erreicht hatte): »Das kann nicht sein, Alter! Das, das, das … Scheiße! Das kann nicht sein, Alter!
2. Der Zorn (auf Knien, die Drohne in seinen Armen; ein Rotor bewegt sich noch leicht, um dann für immer zu stoppen): »So ein verfickter Scheiß! Ich raste aus! Wegen deinem Scheiß, du Penner!«
3. Das Verhandeln (wieder aufgerichtet, ein leicht verrücktes Glimmen in den Augen, an Ben gewandt): »Bestimmt krieg ich die wieder hin. Was meinst du? Die krieg ich doch wieder hin, oder? Krieg ich die wieder hin?«
4. Die Depression (der komplette Rückweg in Bens Auto; Kai fühlt sich nach diesem traumatischen Ereignis nicht fahrtauglich): leises Wimmern . »Das geht doch nicht. Die war ganz neu. Was soll ich bloß machen? Ich halte das nicht mehr aus …«
Gerade war er glücklicherweise bei Phase fünf angekommen, der Akzeptanz. Es war zwar erst Mittag, trotzdem hatte er sich eine Flasche Bier aufgerissen – heute sei er ohnehin nicht mehr arbeitsfähig, hatte er Ben erklärt, als er vom Kühlschrank zurückkehrte – und wirkte wieder halbwegs entspannt. Ein Umstand, der neben dem Bier auch der Tatsache zuzuschreiben war, dass er gleichzeitig seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung nachging – in einen Monitor glotzen.
Anders als zunächst angenommen waren hier und da auf den Fotos doch weitere Menschen zu erkennen. Auf einem dieser Bilder sah man besagte Dame auf einer Bühne stehen. Neben ihr eine etwas ältere Frau mit brünetten Haaren – der jungen durchaus ähnlich, wahrscheinlich handelte es sich um ihre Mutter. Daneben glotzten, brav aufgereiht und breit lächelnd, vier Männer in die Kamera. Einer von ihnen, ein gepflegter Herr mit grauer Föhnfrisur, bei der kein Haar aus der Reihe zu tanzen schien, in einem edlen Zweireiher, hielt etwas in der Hand, was einem Pokal oder einer Trophäe glich. Aufgrund seiner exponierten Stellung in der Mitte sollte offensichtlich er das zentrale Motiv sein. Die Augen von Ben und Kai fanden schnell die blonden Haare und den kurzen Rock auf der rechten Bildseite und scherten sich wenig um die Kerle.
»Süß, die Kleine«, sagte Kai, nahm einen Schluck aus seiner Flasche und quittierte das Ganze mit einem Rülpser, bevor er weitersprach: »Vielleicht sind das Schauspieler, und die haben irgendwo so einen Staubfänger abgeräumt?«
»Nee. Glaube ich nicht. Zoom mal auf das Teil.«
Kai klickte mit dem Mauszeiger und zog ein Rechteck über den entsprechenden Bildausschnitt. Danach poppte der Bereich in vergrößerter Darstellung auf. Leider unscharf und verpixelt. »Doch, das kenne ich.« Ben tippte unruhig mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Dann stand er auf und ging zu einem Stapel in der Zimmerecke, der aus losen Papieren, Hängeordnern und Magazinen bestand und so aussah, als würde er bereits bei näherer Betrachtung zusammenbrechen.
»Kein Wunder, dass dich keiner mehr als Detektiv will«, sagte Kai, der Ben dabei beobachtete, wie er behutsam in dem Stapel rumfischte. »Wolltest du zu einem Detektiv gehen, der die Fallakten so lagert?«
»Bis hierhin kommen die ja nicht mal. Und außerdem, sieh du zu, dass du dein eigenes Leben in den Griff kriegst, Siebert.« Ben war genervt, gab seinem Freund jedoch insgeheim recht. Er war sich sicher, dass sein Leben um einiges erfolgreicher verlaufen konnte, wenn er erst mal die Kleinigkeiten auf die Reihe bekäme. Altpapier rausbringen, die Hängeordner in den Schrank hängen, den Staubsaugerbeutel wechseln oder überhaupt mal staubsaugen. »Hier ist es!«, rief er und zog eine blau eingeschlagene, dünne Zeitschrift aus dem mittlerweile bedrohlich wankenden Stapel. Unternehmer vor Ort lautete der Titel, und darunter war ein großflächiges Foto zu sehen, auf dem eine strahlende junge Frau in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen genau dasselbe undefinierbare Ding hielt wie der Mann auf dem Foto. Unternehmerpreis 2015 stand in großen Lettern über dem Bild.
»2015? Alter, du musst echt mal ausmisten. Wenn das wenigstens ein Working-Girls-Kalender wäre … und dann war die Zeitung auch noch in der Mitte vom Stapel. Was liegt ganz unten? Deine alten Deutscharbeiten?«
Ben überhörte Kais Gezerre geflissentlich und tippte auf das Bild. »Hier siehst du? Das ist der Dortmunder Unternehmerpreis. Ich wette, die ganzen Preisträger stehen im Internet. Los, mach dich nützlich.« Er zeigte auf den Monitor.
Es dauerte keine halbe Minute, und Kai hatte in der Google-Bildersuche exakt dasselbe Foto aufgerufen. In einem grauen Feld neben dem Bild stand: Der Unternehmerpreis 2015 ging an Richard von Dauss .
»Klar! Richard von Dauss.« Ben schlug seinem Freund fester an die Schulter, als er es beabsichtigt hatte. »Das ist der Hüttenking.«
»Hüttenking?«, fragte Kai, der mit beleidigter Miene seine Schulter massierte.
»Ja. Du weißt auch gar nichts. Das ist der bekannteste Bauunternehmer von Dortmund. Der hat Anfang 2000 in Eving massenweise Sozialbauten hochgezogen. Er selber hat damit richtig Kohle gemacht. Die Wohnungen sind angeblich unter aller Sau. Wenn die in der Zeitung von dem schreiben, dann nennen sie ihn nur den Hüttenking.«
»Ja. Von dem hab ich schon mal gehört. Soll ein richtiger Sack sein. So’n knallharter Geschäftsmann, dem es nur um Profit geht.« Kai lachte kurz auf und sagte dann gespielt bewundernd: »Geiler Typ!«
»Dann könnte mit etwas Glück unsere Lady vielleicht seine Tochter sein«, meinte Ben.
»Und mit noch etwas mehr Glück ist die noch Single und auf der Suche nach einem gut aussehenden Programmierer.«
»Blöderweise gibt’s hier keinen«, feixte Ben.
Kai hatte bereits Richard von Dauss Dortmund Tochter in das Suchfeld eingegeben und einen Artikel geöffnet, in dem genau dasselbe Foto auftauchte. Diesmal mit der Zusatzinformation Links im Bild Richard von Dauss’ Tochter Isana und Ehefrau Elisa .
»Okay, dann brauchen wir bloß noch die Adresse von dieser Isana«, sagte Ben feierlich.
»Und dann? Willst du da hinfahren und die auch stalken, oder was?«
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