1Das Recht der öffentlichen Auftragsvergabe regelt die Verfahren, welche die öffentliche Hand einzuhalten hat, wenn sie Beschaffungen zur Gewährleistung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Wahrnehmung sonstiger Aufgaben vornimmt. Kaum ein Rechtsgebiet ist derart von Reformanstößen der Europäischen Union geprägt worden wie das Recht der öffentlichen Auftragsvergabe. 1 Ökonomischhat das Vergaberecht eine sehr große Bedeutung: Über 250.000 öffentliche Auftraggeber in der EU geben jährlich etwa 14 % des BIP für Lieferungen, Dienstleistungen und Bauarbeiten ohne Berücksichtigung des Versorgungssektors aus. 2Nach vorsichtigen Schätzungen beträgt das jährliche Volumen der öffentlichen Beschaffung in Deutschland etwa 330 Mrd. Euro. 3Laut OECD Statistiken machten die Ausgaben für die Auftragsvergabe im Jahre 2013 etwa 33,8 % der Staatsausgaben aus. 4Nach einer Untersuchung vom März 2008 verursacht die Vergabe öffentlicher Aufträge in Deutschland jährlich Prozesskosten in Höhe von 19 Mrd. Euro. Hiervon entfallen 8,8 Mrd. Euro auf die öffentlichen Auftraggeber und 10,2 Mrd. Euro auf die Bieter. Bei den angenommenen rund 2,4 Mio. jährlichen Vergaben in Deutschland kostet ein Vergabeverfahren für alle Beteiligten im Durchschnitt 7.870 Euro. Die größten Kostenblöcke der Vergabe öffentlicher Aufträge bestehen auf Seiten der öffentlichen Hand in der Erstellung der Vergabeunterlagen (1,7 Mrd. Euro) und auf Seiten der Unternehmen in der Erstellung der Angebotsunterlagen (4,4 Mrd. Euro). 5Für das Verständnis, welche Bedeutung die geltenden Regeln des Vergaberechts haben und aus welchen Prinzipien und Reformbedürfnissen sie sich herauskristallisiert haben, hilft die Kenntnis der Entwicklung des Vergaberechts. 6
B.Ursprüngliche Entwicklung des Vergaberechts in Deutschland
2Grundlagen für das Vergaberecht in Deutschland waren das Haushaltsrechtund Verwaltungsvorschriften. Maßgebliche Normen waren § 55 Abs. 1 der Bundeshaushaltsordnung (BHO) sowie § 30 des Haushaltsgrundsätzegesetzes (HGrG). 7Die Auftragsvergabe durch die öffentliche Hand musste nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, der Wirtschaftlichkeit und der gesicherten Deckung erfolgen. Der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit diente es, durch Wettbewerb unter den Bietern das günstigste und beste Angebot zu ermitteln. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass nur bei objektiver Vergleichbarkeit der Angebote und gleichen verfahrensrechtlichen Ausgangschancen aller Bieter das leistungsfähigste und relativ preisgünstigste Angebot herausgefunden werden kann. Deswegen schreiben § 55 Abs. 1 BHO und § 30 HGrG den grundsätzlichen Vorrang der Ausschreibung gegenüber der freihändigen Vergabe vor. Ähnliche Regelungen enthielten auch die jeweiligen Gemeindeordnungen. 8Diese Bestimmungen des Vergaberechts als Teil des Haushaltsrechts waren traditionell schlichtes Verwaltungsbinnenrecht. 9Es existierte demnach keine klare gesetzliche Regelung hinsichtlich des Vorrangs der Ausschreibung, auf die sich etwa Private als subjektiv-öffentliches Rechtvor Gericht hätten berufen können. 10Die Vergabe erfolgte in der Verwaltungspraxis infolgedessen überwiegend durch freihändige Vergabe. 11Diese für den unterlegenen Bieter unbefriedigende Situation wurde mit dem Argument gerechtfertigt, dass eine zügige Auftragsvergabe im Interesse der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht durch langwierige Verwaltungs- und Gerichtsverfahren hinausgezögert werden solle. 12
3Mangels Rechtsschutzes auf Primärebene aufgrund einer fehlenden wehrfähigen subjektiv-öffentlichen Rechtsposition bestand für übergangene Bieter lange Zeit nur die Möglichkeit, vor den ordentlichen Gerichten Rechtsschutz auf Sekundärebenein Form von Schadensersatz zu suchen. 13Hier sahen sich die Bieter hinsichtlich in Betracht kommender Ansprüche aus c. i. c. jedoch schwerwiegenden Beweislastproblemen, insbesondere mit Blick auf die Kausalität zwischen fehlerhafter Auftragsvergabe und dem eingetretenen Schaden, ausgesetzt. 14Ferner schied ein deliktischer Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB regelmäßig deswegen aus, weil die Gerichte den Vergaberichtlinien als Verwaltungsbinnenrecht eben keinen Schutzgesetzcharakter zusprechen konnten. 15Eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung eines Bieters durch eine Vergabestelle war vom Bieter nur äußerst selten zu beweisen. 16
4Konkrete Regelungswerke ohne Rechtsnormqualität wurden von Verdingungsausschüssen, d. h. von Gremien der jeweils zuständigen Verbände bzw. der öffentlichen Hand geschaffen: die Verdingungsordnungfür Bauleistungen ( VOB, heute Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, erste Fassung bereits 1926) 17sowie die Verdingungsordnungfür Leistungen ( VOL, heute Vergabe- und Vertragsordnung für Leistungen), die in ihrem jeweiligen Teil A Vorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge enthielten und kraft Verwaltungsvorschrift von öffentlichen Auftraggebern zu beachten waren. Entscheidendes Kriterium für die Zuschlagserteilung war dabei entweder der niedrigste Preis oder das wirtschaftlich günstigste Angebot. 18Sie hatten als Dienstvorschriften rein binnenrechtlichen Charakter und vermittelten keine subjektiven Rechte gegenüber Bürgern und deren Unternehmen. 19Die Verletzung der Verdingungsordnungen konnte infolgedessen nicht von unterlegenen Bietern vor Gericht gerügt werden. 20
C.Einfluss des Europarechts
5Wesentliche Impulse für die danach einsetzende kopernikanische Wende in der Entwicklung erfuhr das deutsche Vergaberecht durch das Gemeinschaftsrecht, das die Förderung des Binnenmarktes, in dem ein freier Waren- und Dienstleistungsverkehr herrscht, zum Ziel hat. Deshalb hatte der Gemeinschaftsgesetzgeber seit den neunziger Jahren damit begonnen, die Bedingungen für einen wirksamen Wettbewerb um öffentliche Aufträge zu schaffen. 21Die Vergabe öffentlicher Aufträge einschließlich des Versorgungssektors beläuft sich laut Kommission auf etwa 19 % des BIP der Europäischen Union. 22Der Anteil direkter grenzüberschreitender Beschaffungen ist mit rund 3 % allerdings noch gering. 23Die Pflicht, einen öffentlichen Auftrag auszuschreiben, ergibt sich bereits aus den Grundfreiheiten(Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit), soweit die Aufträge binnenmarktrelevant sind, sich also auch Unternehmern aus anderen Mitgliedstaaten für ihre Erbringung interessieren könnten. 24Die Grundfreiheiten allein waren aber nicht ausreichend, einen kohärenten und rechtsschutzintensiven Rahmen für die öffentliche Auftragsvergabe zu gewährleisten. 25
6Die EG erließ bereits Anfang der neunziger Jahre drei Richtlinienzur Koordinierung der öffentlichen Auftragsvergabe: die Baukoordinierungsrichtlinie, 26die Lieferkoordinierungsrichtlinie 27und die Richtlinie zur Koordinierung der Vergabe von Dienstleistungen. 28Wegen der Besonderheiten der Aufträge in den Sektoren Strom, Wasser, Verkehr und Telekommunikation erließ die EG zudem eine Sektorenrichtlinie 29zur Koordinierung der Auftragsvergabe in diesen für die Kommunen oftmals durch private Unternehmen erbrachten Bereichen 30. Diese Richtlinien stellen eine systematische Konkretisierung der Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbot dar. 31Soweit ein öffentlicher Auftrag ein Volumen hat, das die in den Richtlinien bestimmten Schwellenwerte überschreitet, wird davon ausgegangen, dass der Auftrag binnenmarktrelevant ist und zur Absicherung der Nichtdiskriminierung von Bietern aus anderen Mitgliedstaaten europaweit ausgeschrieben werden muss. 32Anders als die Regelungen im deutschen Recht begründeten die europäischen Richtlinien auch subjektive Rechtefür Bieter. 33Sie gingen damit deutlich über nur binnenrechtlich wirkende Haushaltsvorschriften hinaus. Zur Durchsetzung dieser subjektiven Rechte wurden zwei Rechtsmittelrichtlinienerlassen, die die Mitgliedstaaten zur Einführung eines Nachprüfungsverfahrens, in dem die Einhaltung der Vergabevorschriften rechtsverbindlich festgestellt werden kann, verpflichteten. 34Mit den Rechtsmittelrichtlinien formte der Gemeinschaftsgesetzgeber die Spruchpraxis des EuGH nach, wonach Grundfreiheiten auch als Verfahrensrechte zu verstehen sind. 35
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