Offenbar war das Schiff, längst von allen Menschen verlassen, in die Klippen geworfen worden. Von Weitem hörte ich menschliche Stimmen, aber wir waren schon zu schwach, um uns zu bewegen. Einmal verließ uns der Vampir einige Zeit, aber er kehrte bald wieder zurück. Und dann nahm uns das Meer wieder auf – es drang mir kaum mehr ins Bewusstsein, es war wie ein sanftes Wiegen vor dem Einschlafen. Kurz darauf krachte und splitterte etwas – und mein zweites Ich im Körper des widerlichen Tieres erlosch.
Seither beschränkt sich mein Bewusstsein wieder auf meinen alten Körper – aber ich bin sicher, dass mir ein wichtiger Teil meines Denkens, meiner Fähigkeiten und meiner Erinnerungen fehlt. Leider vergesse ich aber nie jenen schrecklichen Augenblick meines Lebens, als ich auf dem Operationstisch lag, als sich das Wesen nach der geglückten Operation zu mir aufrichtete und ich seinen Kugelkopf mit den lidlosen Augen dicht vor mir sah, zu gleicher Zeit aber mit eben diesen Augen das entsetzte Gesicht meines menschlichen Selbst erblickte.
Entstehungsdatum ca. 1946–1950
Ich traf ihn in den Sommerferien während eines Spaziergangs am Strand. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, ein hübscher blondhaariger Junge, der wohl jedem Mädchen gefallen musste. Gerade steuerte er sein Fischerboot ans Ufer und ich erinnere mich daran, dass seine Muskeln spielten, als er die Netze aus dem Wasser zog.
Am nächsten Morgen bat ich ihn, mich aufs Meer hinaus zu rudern. Während ich ins Boot stieg, streckte er mir die Hand entgegen, den Daumen der anderen hatte er um die Bordkante gelegt, während die übrigen Finger einen Pfosten des Steges umklammerten. Das Boot hielt trotz des starken Wellenschlages still wie ein Lamm und ich bekam zum ersten Mal eine Ahnung von der Kraft seiner Hände.
Jan hieß der blonde Fischer. Wir fuhren nun täglich auf die See hinaus, es machte mir nichts aus, dass der Junge etwas schwerfällig im Denken war. Dafür wartete er auch Tag für Tag geduldig auf mich und war selig, wenn ich mich neben ihn setzte und den Kopf an seine breiten Schultern lehnte.
Eines Tages besuchte mich Egon. Am Abend trafen wir Jan, der sicher den ganzen Tag vergeblich nach mir Ausschau gehalten hatte. Ich stellte ihn vor, und als er Egon die Hand reichte, sah ich, wie der hochmütige Blick in Egons Gesicht verschwand und einem schmerzlich überraschten Ausdruck Platz machte. Jan hatte wohl etwas stark zugegriffen. Egon aber, der bemerkte, dass mir das nicht entgangen war, ließ Jans Hand nicht aus, sondern packte selbst kräftiger an.
Da zwinkerte ich Jan aufmunternd zu. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, zugleich lief ein Zittern durch die ineinander geklemmten Hände und mit einem Schmerzensschrei fuhr Egon zurück. Jan hatte ihm zwei Finger ausgekegelt.
Ich hätte damals schon meine Bootsfahrten mit ihm aufgeben sollen. Aber erst vorige Woche konnte ich mich dazu entschließen.
Als ich heute gegen acht Uhr abends aus unserem Bootshaus trat, stand eine Gestalt im Schatten: Jan. Er trat auf mich zu und legte mir eine Hand auf die Schulter. Ich war so erschrocken, dass ich laut nach Egon rief. Ein unbeschreiblicher Ausdruck von Hass und Wut lag in den Augen Jans, als er sich zu Egon umwandte.
Ich glaube, es ist etwas Schreckliches passiert. Halb besinnungslos vor Angst lief ich davon, ohne anzuhalten, bis hierher, und noch immer sehe ich das verzerrte Gesicht Egons vor mir, als sich die Hände Jans um seinen Hals legten.
Entstehungsdatum ca. 1946–1950
An der verfallenen Mauer einer eingestürzten Ruine kauerten zwei Kinder und bauten Burgen aus dem roten Ziegelstaub. Sie hatten dort einen wunderbaren Spielplatz gefunden; wo hätten sie denn sonst dieselbe warme Sonne gefunden und wären trotzdem so ungestört gewesen? Wer verirrte sich schon in das Ruinenviertel? Höchstens wühlte einmal eine alte Frau aus den Trümmern Brennholz hervor oder ein verlaufener Hund jagte nach Ratten.
Und doch ging einer langsam zwischen den Häuserresten dahin, ohne rechts und links zu schauen und so sah er auch nicht die Tafel »Gesperrt, Einsturzgefahr«. Der Mann war mager und ungepflegt. Haar und Bart trug er ungeschnitten, die Kleidung zerrissen, das Gesicht sonnenverbrannt und zerfurcht. Er hatte einen Sack in der linken Hand, der aber keinen Inhalt zu bergen schien und der leicht am Boden schleifte.
Das war seine Heimkehr. Es kam ihm jetzt nicht in den Sinn, dass er sich den Augenblick immer wieder ausgemalt hatte, das Einbiegen in seine Gasse, das Vorbeigehen am Greißlerladen, wo er seinerzeit seine ersten Einkäufe getätigt hatte, und dann würde er vielleicht wieder über den hervorstehenden Pflasterstein stolpern, über den er sich schon bei seinen Schulgängen oft genug geärgert hatte – es war gerade der zweite rechts neben der Laterne – und wollte man dieser ausweichen, musste man wohl oder übel über besagten Stein.
Und dann, wenn er bei dem letzten etwas vorgebauten Haus vorbeikommen würde, dass das letzte Hindernis zur Sicht seines Geburtshauses ist, ob er wohl einen Augenblick verweilen sollte oder ob er gleich auf das alte schmiedeeiserne Tor zustürzen und die Stiegen hinaufstürmen würde? Sollte er die Tür aufsperren und sich leise in die Küche zur Mutter schleichen oder sollte er an allen Türen Sturm läuten – auch bei den Nachbarn? – Ich bin wieder da!
Es kam ihm nicht der Gedanke, dass auch seine Heimstätte ein Trümmerfeld sein könnte und noch verbarg ihm die stehen gebliebene Vorderfront des Nachbargebäudes die verkohlte Mauer seines Hauses. Und als er jetzt um die Ecke bog, fasste er den Anblick nicht. Er sah sich hilflos suchend um und tappte willenlos an der Mauer entlang bis zum leeren Haustor, das mit Ziegeln bedeckt war. Jedes Denken in ihm war erstarrt.
Das Bild der blumengeschmückten Vorderseite war viel lebendiger in ihm und viel wirklicher. Er sah nicht, dass die Wohnungen ausgebrannt waren, dass in den noch stehenden Mauern Einschusslöcher waren. Nur im Unterbewusstsein merkte er, dass etwas nicht in Ordnung war.
Der Sack mit den spärlichen Habseligkeiten, den er kilometerweit mitgezogen hatte, entfiel seiner Hand. Und sein Fuß trat achtlos darauf, nicht achtend des seltenen Schmetterlings, der in einem Schächtelchen sorgsam auf eine Stecknadel aufgespießt für seinen Bruder bestimmt gewesen war. Und der holzgeschnittene Hund war Gertrud vermeint gewesen. Wer aus der Ferne kommt, steht nicht gern mit leeren Händen da.
Dort, wo früher das Stiegenhaus gewesen war, böschte sich ein riesiger Ziegelhaufen und oben waren noch die Haustüren zu erkennen. Die Beine begannen höher zu klettern, glitten zurück, hier war noch ein Teil des Geländers, dort fand der Fuß an einem Türstock Halt. Die Augen blickten starr nach oben, das Loch, das einmal sein Zuhause vom Gang und damit von der Außenwelt getrennt hatte, kam immer näher. Seine Hände klammerten sich an einen verkohlten Balken und das schwankende Holz trug noch einmal, die Schwelle schwang.
Und nun richtete er sich benommen auf. Er sah sich noch einmal über die Straßen gehen, hörte seine Schritte, Wälder, Berge, Wiesen glitten vorbei. Und verstörte Menschen gingen an ihm vorüber und er wusste nicht mehr, was er mit ihnen gesprochen hatte. Und er setzte wieder den rechten Fuß vor und dann den linken und dann wieder den rechten und wieder den linken und immer weiter und weiter, auch noch im Schlaf ein paar Stunden in einer leeren Scheune.
Er strich das wirre Haar aus der Stirn und hob die Augen. Statt der Küche gähnte ihm ein Loch entgegen und aus seiner Kammer schob sich ein Bruchziegelhaufen. Ein paar Schritte führten ihn zur Wohnzimmertür. Sie schien noch heil, doch als er sie durchschritt, löste sie sich aus den Scharnieren und fiel polternd zu Boden. Links war der Bücherkasten umgestürzt und neben Vaters Klassikern lagen die Scherben der italienischen Blumenvase, das Erbstück der Großmutter. Und da fand er gar ein altes Kinderbuch von ihm, aufgeschlagen, sodass ihm die bunten Bilder entgegenlachten, als er vorsichtig den Staub davon wegwischte. Und neben dem Klavier lag ein Haufen von Noten über das gelbe Seidentischtuch gestreut, auf dem noch der rote Kirschenfleck prangte, der seinerseits Vater so in Zorn versetzt hatte, weil er Kompott verschüttet hatte.
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