Gabriel flößte ihr Wasser ein. Sie trank gierig. Er fütterte die Sklavin mit kleinen, weichen Brotstückchen ohne Rinde. Sie kaute. Noch nie hatte jemand ihr so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Kajira pickte mit der Zunge eine Krume von ihrer Unterlippe.
Gabriels Pupillen weiteten sich. Er stellte den Teller auf den Boden und bettete sich vorsichtig neben seine Sklavin. Die tigergelben Augen glänzten unnatürlich. Sie wollte seinen Blick auffangen, aber er sah an Kajira vorbei und seufzte. Dann rollte er sich auf sie, liebte sie unendlich langsam. Daniela empfand nichts. Sie dachte an Heiko. Als der Dunkle Rabe kam, weinte er. Kajira zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Wie ist das möglich? Sie wagte kaum zu atmen. Er schlief in ihren Armen ein. Flüsterte ein paar Mal in englischer Sprache »666«. Daniela konnte mit den Zahlen nichts anfangen. Sie fühlte sich wie paralysiert.
Nach einer Stunde wachte Dark Raven auf, schaute sich um. Der Schleier über seinem Blick war verschwunden. Er zog seine Brauen zusammen und senkte sie. »Was zum Teufel tust du hier?« Er stieß Kajira von sich, schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Ihre Wange brannte. Sie spürte Erleichterung. Willkommen, süßer Schmerz! Daniela starrte ihn an. »Ich weiß es nicht.«
Er starrte zurück, blähte die Nasenflügel. »Du verdammtes Miststück! Luzifer wird dich für deine Dreistigkeit bestrafen. Du stehst vor deinem Abgrund, und ich werde dich bestrafen.«
Er stieß Kajira aus dem Bett. Sie kniete sich vor ihn und senkte den Kopf. »Es tut mir leid, Herr, wenn ich Ihnen missfallen habe!«
»Auf die Streckbank!«
Daniela rappelte sich auf.
Er schlug ihre Arme und Beine in Ketten, peitschte sie aus. Ihr Körper erwachte aus einem langen Schlaf. Jeder Millimeter Haut pochte vor Lust. Kajira war geschwebt, war das letzte Mal unter seinen Händen geflogen.
Das Klappern eines Schlüssels riss Daniela aus ihren Erinnerungen. Die verwirrende Session mit Dark Raven vor zehn Tagen und ihre Degradierung zur namenlosen Sklavin vor drei Stunden erschienen ihr wie ein Traum - eine Ewigkeit her.
Hausmeister Charly öffnete die Tür zur Böttgerstraße. Er schob seinen massigen Körper zu dem Mädchen auf die Treppe. Sein Grinsen breitete sich quer über das gutmütige Gesicht aus. »Ach ne, Kleene, haste dir mal wieder ausjesperrt?«
Daniela nickte erschöpft.
Binnen weniger Minuten war sie in ihrer Wohnung in einen todesähnlichen Schlaf gefallen. Die nächsten beiden Tage verbrachte das Mädchen im Dämmerzustand, aß und trank kaum etwas, stellte das Telefon in den Stummmodus.
ZWEI TAGE SPÄTER verließ Daniela Wackernagel zögernd das Haus. Dem Kletterparadies Magic Mountain schenkte sie heute keinen sehnsüchtigen Blick. Ihre Gedanken kreisten nach wie vor in einer Endlosschleife um den Dunklen Raben . Wie sollte sie ohne ihren Herrn und Meister weiterleben? Er ist mein Licht, meine Sonne, mein Leuchtturm .
Der trübe Herbsthimmel verfinsterte Danielas Laune einen weiteren Tick. An einem Haus auf der anderen Straßenseite lehnte ein Bodybuildertyp und rauchte. Er blickte zu ihr hinüber. Daniela erkannte das verwitterte Gesicht, den struppigen Kinnbart. Der nächtliche Raucher . Der hochgewachsene Kerl löste sich von der Mauer, warf eine halb gerauchte Zigarette achtlos auf den Bürgersteig. Daniela war, als würde sie auch seine gesamte Gestalt nicht das erste Mal sehen. Die junge Frau lief verwirrt die Böttgerstraße hinunter. Dann erinnerte sie sich an das auffällige T-Shirt. Ein Muskelmann, mit dem sie vor ein paar Tagen in der Nähe des SM-Studios zusammengestoßen war, hatte es ebenfalls getragen. Auf sein Gesicht hatte sie damals vor lauter Schreck nicht geachtet. Unter dem Schriftzug RALLE prangte ein glänzend roter US-Truck mit den obligatorischen Riesennebelhörnern aus Chrom. Daniela blickte über die parkenden Autos hinweg. Der Mann lief in ihre Richtung und starrte sie an. Verfolgt der mich etwa? Die namenlose Sklavin zog die Schultern nach oben. An der Hauptverkehrsstraße wartete Daniela an einem Fußgängerüberweg. Sie drehte sich um. Ralle hatte inzwischen die Straßenseite gewechselt, schlenderte lässig auf sie zu. Die Ampel sprang auf Grün. Daniela beschleunigte ihre Schritte, überquerte hastig den Brunnenplatz, bog in die Straße ein, die zum Ufer des Flüsschens führte. Als die namenlose Sklavin am Studioeingang den Summer hörte, war sie außer Atem.
Im Carpe Noctem stand Nora Sengbusch wie Nemesis persönlich hinter dem Tresen: 57 Jahre, frauliche Rundungen an den richtigen Stellen, eisgraue Hochfrisur. Raffinierte Korsetts trug sie seit Jahren nicht mehr. Das überließ die personifizierte Rachegöttin den jungschen Dingern.
Daniela Wackernagel, die nicht mehr Kajira war, senkte den Blick; verzog in Gedanken an den unsympathischen Fettsack August Schenker das Gesicht. »Es tut mir leid. Ich hab’ heute Nachmittag den Müll raus gebracht und mich dabei ausgesperrt. Mein Wohnungsschlüssel hat von innen gesteckt.« Sie schämte sich, hatte nicht einmal ihrer einzigen Freundin Paula von den letzten beiden Treffen mit Dark Raven erzählt; von der Verzweiflung, die sie seitdem erfüllte. Und die Queen of Pain wäre die Letzte, der sie sich anvertrauen würde. Die Studiochefin schenkte den Frauen, die für sie arbeiteten, nichts; schon gar kein Mitgefühl.
Es klingelte an der Studiotür. Daniela zuckte zusammen.
Nora runzelte die Stirn. Daniela öffnete. Erschrocken starrte sie in ein verwittertes Gesicht mit struppigem Kinnbart. Scheiße, der Raucher aus der Böttgerstraße! Der Bodybuilder mit dem Truck-Hemd! Seine Jogginghose war an den Taschen stark ausgebeult. In seinem rechten Ohr trug er einen Piratenohrring. Er wirkte verschwitzt. »Hey, Püppi, ick bin Ralle , der schärfste Fernfahrer vom Wilden Wedding . En Kumpel hat mir jesteckt, det et hier oben schnuckelige Sklavinnen jibt – und du, Mädel, bist janz jenau meine Kragenweite.«
Danielas Angst verflog. Sie grinste belustigt. Wer hat denn den aus dem Zoo gelassen?
Die Queen of Pain rauschte mit raumgreifenden Schritten hinter dem Tresen hervor. Sie schob Daniela mit einer resoluten Handbewegung zur Seite und inspizierte den Kerl mit einem schnellen Blick. Nora schüttelte den Kopf. »Junger Mann, eine Püppi gibt es hier nicht. Ich denke, Sie haben sich verirrt. Ich führe ein Domina-Studio. Meine Damen sind von ihren Gästen tadellose Manieren gewohnt.«
Ralle bekam Basedowaugen. »Aber ick habe jenug Kohle. Ehrlich!« Er zog ein Bündel Geldscheine aus der rechten Hosentasche und streckte es Nora hin.
Die Queen of Pain rümpfte die Nase. »Das mag sein. Aber wir sind hier nicht auf einem orientalischen Basar. Ich empfehle Ihnen den Puff in der Badstraße.«
Die namenlose Sklavin fragte sich, warum die Chefin den Typen ablehnte. Der ist doch witzig . Außerdem konnte sie die Kohle gut gebrauchen. Die Miete war fällig. Daniela zwinkerte ihm zu.
Im Gesicht des Mannes arbeitete es. Die Kiefer mahlten. Seine Augen verengten sich. »Und du, Muttchen, könntest eine ordentliche Tracht Prügel vertragen.«
Daniela blinzelte. Oh, oh, er spricht plötzlich Hochdeutsch .
Ralle griff in die andere Jogginghosentasche. Seine große rechte Hand zog eine zusammengerollte Peitsche mit einem kurzen roten Griff heraus.
Die namenlose Sklavin schaute ihn fasziniert an. »Cool!«
Nora Sengbusch stemmte ihre Hände in die Hüften. »Jetzt ist es genug. Troll dich oder ich rufe die Polizei!«
Sie warf die schwere Tür ins Schloss. Beide Frauen hörten Ralles dumpfe Stimme. »Eingebildete Tussi!«
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