Aus Erfahrung wusste sie, dass es keinen Sinn machte, auf die Gerichtsverhandlung zu warten. Es war kein Geheimnis, dass König Egon der Dritte Gefangene oft ihrem eigenen Elend überließ. Seit die Nomadenstämme südlich von Wranis in einen Friedensvertrag eingewilligt hatten, schenkte er seine Aufmerksamkeit den Konflikten an der Nordgrenze zum Reich der Zwölf Stämme. Der Einfall der Barbaren vor zwanzig Jahren hatte deutlich gemacht, dass Tilayndor die Tundra des Nordens ernst nehmen musste. Wen kümmerten da schon ein paar inhaftierte Bezwinger? Wenn sie Glück hatte, fanden sich Wärter, die sich mit einem Extragroschen Bettgespielinnen oder andere Lustbarkeiten gönnen wollten. Sie sollte verdammt sein, wenn sie nicht diejenigen retten konnte, die Seite an Seite mit ihr gekämpft und geblutet hatten.
Sie vermied es, die aschgrauen Stadtgardisten anzuschauen, die in Trupps aus jeweils sechs Mann über die Straßen patrouillierten. Es kam ihr recht, dass sie nach dem Beispiel der Einheimischen das Gesicht hinter dem Mantelkragen vergraben konnte. Besser, man sah ihre gebrochene Nase nicht, die so etwas wie ihr Markenzeichen war.
Der Schneefall gewann an Dichte und dämpfte die Geräusche der Handwerker, die im Schmiedeviertel Hufeisen für Pferde, Töpfe und Pfannen, Kessel und andere Haushaltsgegenstände herstellten. Talisa spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, ihre Rüstung an der Rückenplatte ausbessern zu lassen, allerdings verwarf sie ihn wieder, da sie vorrangig einen Handwerker suchte, der Waffen herstellen konnte.
Vor einer Schmiede sortierte ein Lehrling Schwerter, Morgensterne und Äxte nach Größe und Form auf einem Gestell. Ihre Schneiden waren noch jungfräulich.
»Meine Dame, willkommen in Darheisens Waffenkammer. Ihr habt den Blick einer Kennerin, darf ich Euch zu einem wranischen Florett raten?«, fragte der rotznasige Bengel. Er passte kaum in den Pelzmantel, den er vielleicht von seinem älteren Bruder geerbt hatte, dennoch konnte er schon schleimen wie ein Großer. Er schenkte ihr ein Schmunzeln, das ihm im Gesicht gefror, als Schmutzbart sich von hinten an ihre Seite stellte.
Talisa sah das Sortiment durch. »Verhökere deinen Schrott an Einfältige, mein Junge, mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich will das gute Zeug, verstanden?« Sie zog den Kragen hinunter und entblößte ihre gebrochene Nase.
Er schluckte. »Ja, natürlich, kommt rein in die Schmiede. Ich denke, Ihr fragt besser gleich den Meister.« Er zeigte auf einen vierschrötigen Mann.
Schweiß glänzte auf Darheisens Muskeln, während er mit der Regelmäßigkeit eines Blasebalgs ein Stück Metall auf dem Amboss bearbeitete. Seine Schmiedeschürze glänzte im Schein orangefarbener Flammen. Das alles weckte Erinnerungen an Folter und Gefangenschaft in Talisa.
Darheisen hob das glühende Metall, begutachtete es und warf es in eine Kiste mit Hufeisen und Pfannen. »Nicht alles, was als Erz bezeichnet wird, taugt auch was!«, schimpfte er und warf Talisa und Schmutzbart einen Blick zu.
»Mein Freund hier braucht eine neue Waffe, etwas aus der Sammlung von Erensen wäre gut«, meinte Talisa.
»Wenn ich etwas vom Meisterschmied Erensen besäße, dann würde ich nicht mehr arbeiten müssen. Was Ihr hier seht, ist die Arbeit meiner eigenen Hände, also echte Darheisen, wenn Ihr so wollt. Die Keule eures Freundes sieht nicht nach Schmiedekunst aus.« Er deutete auf das untere Stück der Keule, das unter dem Mantel von Schmutzbart herauslugte.
»Vater Klein hält es für passend, grob und groß, so wie er selbst«, grollte Schmutzbart. Er überragte den Schmied um eine Kopflänge.
Talisa inspizierte die Schmiede und deutete auf ein flammengeschwärztes Fass voller Waffen.
Gute Krieger haben gute Ausrüstung.
»Das da!«
Darheisen zog einen Kriegshammer heraus und wog das Gewicht in seinen Schmiedepranken. »Sicher?«
Schmutzbart nahm den Hammer am Holzgriff entgegen, machte ein paar Probeschwünge und ließ seine Fingerknöchel um den Schaft knacken. Es war nicht zu übersehen, dass er Zweihandwaffen gewohnt war. Dann betrachtete er den schweren Metallkopf, dessen linke Seite mit einer stacheligen Platte versehen war. Die andere lief in einen spitzen Dorn aus. »Wie gemacht um Rüstungen zu knacken und Knochen zu Mehl zu mahlen«, raunte Schmutzbart.
»Ich habe bisher lediglich angonische Sklaven gesehen, die damit umgehen konnten. Und von denen gibt es nicht viele. Ich hoffe, Ihr wisst, dass die Anfertigung solcher Einzelstücke sehr aufwendig ist«, bemerkte Darheisen und spuckte auf den mit Sand bestreuten Boden der Schmiede.
Talisa griff in die Tiefen ihres Pelzmantels und förderte ein goldenes Collier in den Feuerschein der Schmiede. Sie warf das Geschmeide auf den Amboss und sah den Schmied kalt an. Der begaffte mit gierigen Augen die Goldkette. »Für solch gute Kunden lege ich noch einen drauf. Hiron, bring mir den Drachenarm!«, schrie er nach draußen.
Etwas später stolperte der Junge mit einem großen Gegenstand in die Schmiede.
Darheisen nahm das Teil entgegen und klopfte mit seinen Bärenpranken gegen die silbrig glänzenden Schuppen. »Die neueste Mode bei Nordmännern. Schuppen statt Ketten. Beweglich und dennoch dicht genug, um Hieben und Stichen zu trotzen. Ich habe die Technik mit dem Drachenarm kombiniert, der üblicherweise aus Schienen mit Verbundgelenken besteht.« Er fuhr stolz über die Schuppen, die sich wie Dachschindeln überlappten. »Probiert es an.«
Er hielt Schmutzbart den Armpanzer hin und rümpfte die Nase.
Schmutzbart ließ seinen Pelzmantel fallen und entblößte mehrere Schichten fadenscheiniger Hosen und Hemden, die er übereinander trug. Die obersten Löcher wurden von unteren Schichten abgedeckt, untere Löcher und Risse von oberen intakten Schichten. In einem Kopf, dem kein Verstand innewohnte, machten die Dinge ihren eigenen Sinn. Er hätte wie ein Bettler ausgesehen, wenn nicht diese Riesenkeule gewesen wäre, die er an der Seite trug. Er nahm den Drachenarm entgegen, zog ihn über die Hand hoch zur Schulter und ließ sich von Darheisen die Bänder an der Unterseite des Oberarms und an der Schulter festschnüren.
»Na also, langsam machen wir aus Schmutzbart einen Krieger, was?«, murmelte Talisa.
»Vater Klein fragt sich, warum wir keine Pferde genommen haben?« Schmutzbart legte sich den Hammer lässig über die Schulter.
»Vater Klein sollte lieber darauf achten, dass er sich nicht seine Murmeln in der Scheißkälte abfriert! Nahende Reiter rufen immer Wachen auf den Plan und wir wollen keine Aufmerksamkeit erregen. Wenn wir zu Fuß den Haftturm betreten, werden uns höchstens zwei Stadtwachen inspizieren. Ich will sehen, in welchem Zustand meine Männer sind, danach werde ich versuchen, sie freizukaufen, was nur funktioniert, wenn wir hier keinen Aufstand machen.«
Aus dem Schneegestöber entwand sich der graue Haftturm. Es war eine Stein gewordene Hässlichkeit, eine Beleidigung fürs Auge. Zwei Stadtgardisten vergruben ihre Münder hinter ihren Stehkragen und beäugten ihr Kommen.
Talisa schritt erst an das Tor zum Innenhof heran, bevor sie ihr Gesicht entblößte. Kaum, dass sie es getan hatte, öffnete man ihr das Tor.
»Hauptmann Talisa«, sprach sie ein Wachoffizier an, »wir dachten, Ihr wäret … «
»Tot? Nein, selbst die Pest vergeht schneller als ich. Sagt, wo sind die Bezwinger untergebracht?« Sie blickte nach, wo sich die beiden Flügel des Hoftors schlossen, weil die Gardisten das Gegengewicht am Seil über einen Flaschenzug herunterließen. Der Sack plumpste neben einem aufgeschichteten Haufen aus gefrorenen Pferdeäpfeln in den Schnee.
Ein Stallbursche, etwa zehn Sommer alt, hinterließ Trittspuren im unschuldigen Weiß, während er die Äpfel auflas und in einen Eimer legte, den er bei sich trug. Als er Talisa sah, eilte er wieder zurück zu den Ställen auf der linken Seite.
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