Sie sah Schmutzbart an, der seinen Bart oder auch den Nager darin kraulte. Wahnsinn kann eine mächtige Waffe sein.
Talisa hob ihr Bastardschwert auf und atmete durch. Mit dem Griff um ihre Waffe fühlte sie sich wieder stärker. Und sie würde sich noch stärker fühlen, sobald sie ihre Männer aus der königlichen Inhaftierung in Tilayndor befreit hatte.
»Ihrer Gaben beraubt, darben Leviathane in der Dämmerung zwischen Wachen und Schlafen. Sie teilen ihr Schicksal mit anderen mächtigen Wesenheiten, die Opfer ihrer Gier wurden.«
– Auszug aus dem Dämmerepos von Eron dem Barden.
Kapitel Fünf
Dem Tod so nahe
Khalea schmeckte Sand. Sie rappelte sich hoch und blickte der Sonne entgegen, die sich ein Loch durch die Wolkendecke gestanzt hatte. Das Meer trug Welle um Welle an den Strand, schwemmte Holztrümmer und Kisten heran. Mit den Trümmern kam die Erinnerung.
Sie verkrampfte. Ein Höllenschwamm, ein Wesen aus Legenden, ein Unsterblicher. Tentakel der Angst krochen durch ihren Verstand und ließen ihren Körper erzittern. Der Wind hatte gedreht und kühlte sie unter der feuchten Kleidung aus.
Wie lang hatte sie am Strand gelegen? Vor ihr krabbelten zwei Krebse über eine leere Weinflasche mit einer Meeresschnecke darin. Sie bedrohten sich mit ihren Scheren und stritten um die Beute.
Khalea knüpfte sich den Mantel zu und taumelte los. Unter ihren Füßen konnte sie den Sand spüren, so dünn waren ihre Sohlen. Neue Schuhe wären gut, vielleicht auch ein Gürtel, der die Hanfschnur um ihre Taille ersetzen würde. Wie hatte das alles passieren können? Unsterbliche, Kampfpriester, Firuwahr … Alles überschlug sich und wollte nicht zum Stillstand kommen.
Keine Zeit zum Verschnaufen, keine Zeit zum Innehalten.
Das Meer hatte sie wieder an Land gespült – irgendwo, wo es keine Schiffe mehr gab. Links war eine Steilwand, rechts die See, die unablässig Trümmer an den Sandstrand trug.
Bis hierher hatte Khalea viele Opfer gebracht und es waren immer noch nicht genug. In zwanzig Schritten Entfernung erblickte sie einen Körper, gehüllt in einen Mantel aus Indigo. Ohne Regung lag er auf dem Bauch, die Gischt der Wellen zupfte an seinen Stiefeln.
In Khalea regte sich die Diebin. Bootsnieten stachen ihr in die Fußsohle, während sie sich dem Menschenbündel näherte. Sie fischte eine Latte aus dem Sand und hob den Umhang hoch. Mehrere Schnitte und Schürfwunden bedeckten Finns fahles Gesicht. Die Lippen waren bläulich, die Lider geschlossen. Eine Platzwunde prangte unter seinen kurzen silbrigen Haaren und Blut sickerte aus einer Schnittwunde in seiner Flanke. Was es auch war, das ihn dahingerafft hatte, sein Amulett mit dem Flammenschwert hatte ihn davor nicht bewahrt.
Sie hob sein rechtes Bein und wollte den Stiefel fleddern, da meinte sie ein Röcheln zu hören. Khalea setzte seinen Fuß ab und legte ihm zwei Finger an den Hals. Schwach. Sehr schwach. Aber es steckte noch Leben in dem Kampfpriester. Sie überlegte kurz, dann zog sie ihm die Schuhe aus und den Gürtel ab. Er war selbst schuld. Jeder wählte sein eigenes Schicksal. Sie überließ ihn den Krabben und fand eine abgewetzte Steintreppe, die durch die Steilwand nach oben führte. Seltsam, dass sie die Treppe bei ihrem ersten Besuch an der Trümmerküste übersehen hatte.
Über ihr lag die Antwort. Brombeerbüsche hatten ein Dach über dem Aufgang gebildet. Von oben konnte niemand die Passage zur Bucht erkennen. Auf den letzten Stufen kämpfte sie sich durch Zweige und Dornen, die ihre Arme, Kapuzenrobe und ihre Haut zerkratzten. Gefühlt dauerte es eine Stunde, bis sie sich nach oben freigekämpft hatte.
Sie stand im Wäldchen, wo sie Flöckchen zurückgelassen hatten. War das Biest hier? Würde es Jagd auf sie machen? Sollte es doch, mit ihrem kalten, klammen Körper würde es kein Festmahl werden. Aus dem Dickicht drang ein Rauschen an ihr Ohr. Ein Fluss? Sie stakste durch weitere Dornenbüsche und fand einen Bach. Khalea beugte sich hinunter und wusch sich den Sand aus dem Gesicht. Nach ein paar Schlucken verging das krustige Gefühl an ihrem Hals und sie glaubte, weiter unten am Wasser eine Kate zu erkennen.
Sie schlich an die geschlossenen Läden und blickte durch die Schlitze. Alles wirkte verlassen. Geräuschlos hebelte sie die Läden mit ihrem Messer auf und schlüpfte hinein. Eine Spinnenmetropole hatte sich über allem ausgebreitet, deren Netze sich vom schmalen Bett, über Tisch, Stühle und Truhe bis hinein in den kleinen Kamin spannten. Khalea nahm trockene Zweige vom Holzstapel daneben und wickelte die Spinnweben auf. Dann nahm sie ein Zunderholz vom Kaminsims und zündete die Zweige an. Überall flüchtete Krabbelgetier in Ecken und Nischen und versuchte dem Feuer zu entgehen.
Khalea legte die improvisierte Fackel unter einen Kessel mit trüber Flüssigkeit in den Kamin und blies, bis die Flammenzungen über die Zweige tanzten.
Das Feuer fraß sich durch das Holz und vertrieb nur müßig die Kälte in der Kate.
Khalea hielt ihre Hände über die Flammen und rieb sich Gefühl in die Finger. Mit der Rückkehr des Lebens in ihren Gliedern krochen ihre Gedanken zu Finn, dessen Lebensfunke an der Trümmerküste erlosch.
»Verflucht!«
Er ist ein Kampfpriester, ein Blender. Keiner braucht ihn.
»Verflucht!«
Die anderen sind mir egal. Das waren sie schon immer, Randfiguren in meinem Leben, nicht mehr als Schlaglichter am Wegesrand.
»Verflucht!«
Am Abend prasselte Feuer im Kamin und belebte die Kate, ließ Schatten in seinem Lebensrhythmus an den dunkel gebeizten Bretterwänden tanzen, während Wasser im Kupferkessel über der Feuerstelle dampfte.
Khalea hatte alle Decken und Kissen, die sie in einer Truhe hatte finden können, auf Finn gepackt und seine Wunden mit frischen Blättern und zerstoßenen Kräutern versorgt. Im Wald konnte man vieles finden, wenn man wusste, wonach man suchen musste. Heilerin war sie trotzdem nicht.
Sie inspizierte sein Gesicht. Trotz des Feuers und der Wärme fehlte ihm noch immer jegliche Farbe. Sie hatte schon Leute an weniger sterben sehen.
»Verdammt!«
Khalea löste den Knoten ihres Hanfseils, zog sich aus und schlüpfte nackt unter die Flachsdecken auf dem schmalen Bett. Sie hätte sich auch neben einen Eisklotz legen können, so kalt war er. Er zitterte am ganzen Leib. Und überall an ihm klebte Sand und Dreck. Sie schmiegte sich an seinen Körper und versuchte, ihm so viel Wärme wie möglich zu spenden.
Das erste, was Finn fühlte, war die Kälte, die ihm die Wärme seines Blutes entriss. Und weil sein gesamter Körper im Sterbebett zitterte, rollte er sich zu einer Kugel zusammen, zog die Flachsdecken an seinen Leib und versuchte, jedes Quäntchen Wärme aus ihnen herauszupressen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so sehr gefroren zu haben. Die Kälte nahm seine Gedanken ein, doch am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass er nicht allein war.
»Gratulation, du hast die Nacht überlebt«, sagte Khalea. Funken stoben hoch, als sie einen Holzscheit in die Glut bugsierte. »Das Schlimmste steht dir noch bevor. Ich hoffe, deine Götter haben Erbarmen und geben dir noch mehr Zeit im Diesseits.«
Finn hatte keine Kraft, sich auf dem Bett zu drehen, geschweige denn, seine Gliedmaßen zu kontrollieren. Er öffnete den Mund und wollte fragen, was sie damit meinte, doch seine Zähne klapperten so heftig aufeinander, dass nur ein Stöhnen seine bläulichen Lippen verließ.
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