Talisa eilte ihm nach und blickte nach unten. Der Wachmann war auf einen Pferdekarren mit Stroh gefallen und hielt nun seinen verdrehten Arm. Mehrere seiner Kollegen kamen angerannt und schauten zu ihr hoch.
Für einen Moment passierte nichts, dann brach die Hölle los.
»Alarm! Tötet sie!« Auf den Holztreppen unter und über ihr polterten Schritte.
Talisa verschaffte sich schnell einen Überblick. Der Ladeschacht verlief von hier unten bis aufs Dach, in dem ein Durchlass den Blick auf die dunkelblaue Haut des Rochenleviathans erlaubte. Über dem Durchlass pendelten Hanfseile aus einer Flaschenzugkonstruktion.
Auf der gegenüberliegenden Seite eilte ein Wachmann, mit einem Kurzschwert bewaffnet, zu ihr. Talisa hob den erbeuteten Speer, zielte und traf den Mann in den Oberschenkel, was ihn zu Boden warf.
Sie hechtete ein halbes Stockwerk zu ihm hinauf, entriss ihm das Kurzschwert und sprang zurück, als er mit einem Dolch nach ihr stach. Sie stieß ihm das Schwert in die Brust, zog es wieder heraus und nahm auch den Dolch an sich.
Wachleute reihten sich bereits unten und oben auf den Stufen und bahnten sich einen Weg zu ihr. Das Treppenhaus wirkte wie ein Taubenschlag, der urplötzlich zum Leben erwacht war. Talisa bezweifelte, dass sie sich gegen so viele Leute zur Wehr setzen konnte.
Talisa nahm eine Fackel von der Wand und warf sie auf den mit Stroh beladenen Karren im Erdgeschoss. Sie wartete einen Moment, bis das Feuer sein Festmahl begann und die Männer sie fast erreicht hatten, dann sprang sie über das Geländer und griff nach dem Hanfseil. Ein Speer zischte an ihren Füßen vorbei, streifte eine hängende Kiste und fiel nach unten, wo sich Pferde panisch aufbäumten.
Talisa hackte auf das Seil neben ihr ein und die daran hängende Kiste raste in die Tiefe, während Talisa am anderen Seil nach oben katapultiert wurde. Ihr Flug trug sie an mehreren irritierten Wachmännern vorbei, bis sie an der höchsten Stelle der Treppe absprang. Talisa rollte sich ab und eilte die restlichen Stufen nach oben.
»Feuer!«, schrie jemand von unten, doch das interessierte sie nicht mehr.
Grausamkeit ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel.
Auf der Landeplattform angelangt, traten zwei Wachleute mit brünierten Brustpanzern und Helmen auf sie zu, richteten ihre Speere auf sie und verschanzten sich hinter ihren Schilden. Hinter ihnen stand Firuwahr und grinste sie an.
Talisa erlebte ein Hochgefühl, da sie ihrer Rache so nahe war. Nur zwei Männer trennten sie von Firuwahr, zwei Männer, die allem Anschein nach echte Krieger und keine Wachleute waren.
»Verdammter Feigling, stell dich!«, schrie Talisa.
Firuwahr richtete sich den Kragen und ließ seinen Pferdeschwanz und den dunkelroten Umhang im Wind wirbeln. Dann legte er eine Hand auf die Brust, streckte die andere vor und verbeugte sich, mit dem Gewicht auf dem Vorderfuß. »Ist gut«, sagte er zu seinen Männern, und sie traten beiseite. Er stellte sich an die Kante der Landebrücke und sah Talisa von oben bis unten an. Links trug er ein Florett am Gürtel, rechts baumelte das Bastardschwert.
»Es freut mich zu sehen, dass Ihr wohlauf seid. Ihr seid nicht etwa gekommen, um meiner Abreise Blumengirlanden nachzuwerfen? Vielleicht beliebt Ihr, auf der Morgensonne mitzufliegen. Auf meiner Barke ist immer genug Platz für Gäste.«
Talisa maß die Distanz ab. Auch mit einem Sprint konnte sie die beiden Wachen nicht umgehen. »Ich bin hier, um Euch zu erledigen!«, schrie sie.
Die Wachen hoben wieder die Speere, doch Firuwahr gebot ihnen wieder Einhalt. »Wehrt Euch nicht, Talisa. Lasst es geschehen. So wie Eure Männer in königlicher Gefangenschaft in Tilayndor sterben werden, werdet auch Ihr hier auf diesem Turm Euer Leben ausbluten.«
»Ihr lügt, der König würde niemals meine Männer gefangen nehmen!«
Firuwahr lachte auf. »Einem Mann das Lügen vorzuwerfen, ist sehr unhöflich. Und mir scheint, dass Ihr nicht versteht, dass sich die Zeiten seit dem Tod von General Kasturon geändert haben. Ihr seid eine Antiquität, wenn auch eine sehr interessante. Und nun ist es an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen.« Er griff in die Öffnung seines Reitergewands und holte eine Maske heraus, die von allein hielt, als er sie an sein Gesicht presste. Rotgoldener Schimmer floss wie Wasser durch die Ornamente, die sich von den Wangen bis hinauf zur Stirn zogen, um dort zu einer Glyphe zusammenzufließen. Sie stellte einen Raben dar, vor dem ein Flimmer der Unschärfe flackerte. Eine seltsame Energie durchzog die Luft.
Einen Lidschlag lang blieb Talisa der Atem weg und ihre Knie wurden weich. Ihr Sichtfeld schrumpfte auf einen Tunnel zusammen.
»Verehrte Talisa, Ihr mögt bereits ahnen, dass wichtige Angelegenheiten nach meiner Person verlangen. So sehr ich es auch will, ich kann Euch keine Gesellschaft leisten. Es gibt Angelegenheiten, in die Ihr Euch lieber nicht einmischen solltet. Abgesehen davon weiß ich bereits, dass Ihr nicht über die Informationen verfügt, die ich benötige. Demnach seid Ihr wertlos für mich.«
Seine Worte drangen in ihre Ohren, dröhnten und verursachten einen stechenden Schmerz. Ein Teil von Talisas Verstand klammerte sich an den Rest rationalen Denkens. Es ist nur ein Trick, Beeinflussung, sonst nichts, dachte sie. Doch sie konnte die Furcht nicht abschütteln, die sie in die Verzweiflung hinabzog. Unfähig, den Blick von der Maske abzuwenden, versagten ihre Beine den Dienst und sie klappte zusammen.
Plötzlich erschien Gundurlak der Menschenhändler, sein schlaffes Glied baumelte wie Gedärm unter dem Wanst. Er ließ die Schultern durchhängen und schleifte Ketten hinter sich her. Ihr Klirren rang mit dem Schnaufen Gundurlaks, der sie mit seinen Schweinsäuglein fixierte. Sie waren Knöpfe in einem Gesicht, das seine Konturen eingebüßt hatte.
»Nein … bitte, ich kann nicht mehr«, flehte Talisa auf Knien.
Firuwahr zog sein Bastardschwert und warf es vor sich auf den Boden. »Ist mir ohnehin zu schwerfällig. Tötet sie, während sie gegen die Magie ihrer Erinnerungen ankämpft«, befahl er und ging über die Landebrücke an Bord.
Sogleich ließ der arkane Bann nach und Talisa erholte sich. Ihr Blick drehte sich noch, während sie sich auf die Beine kämpfte und ihren Körper zu beherrschen versuchte. Im Wirbel der Eindrücke zuckte eine Speerspitze auf sie zu.
Kämpfe, schrie ihr Verstand. Ich kann nicht, ihr Leib.
Unvermittelt brach der Speerschaft unter einem Keulenhieb. Ein zweiter schlug Helm und Kopf zu Brei.
Schmutzbart drehte sich aus dem Angriff des verbliebenen Kriegers heraus und schmetterte ihm die Keule gegen das reche Knie. Unter Schmerzensschreien ging der Mann zu Boden und wurde augenblicklich still, als Schmutzbart ihm mit der Kraft eines Mühlsteins die Brust zerschmetterte.
»Vater Klein sagt, du hättest warten sollen«, bemerkte Schmutzbart unter schweren Atemzügen. Er schaute zur Barke hoch, die an Höhe gewann.
»Sieh nicht hin!«, alarmierte ihn Talisa. Sie selbst richtete den Blick zu Boden, die Hände auf die Knie gestützt und zerrissen in ihrem Kampfesmut.
»Vater Klein mag diese Maske nicht. Er würde sie gern kaputt machen.« Die Erwiderung Schmutzbarts offenbarte nicht mehr Raffinesse als seine anderen Kommentare, mit denen er seine Umwelt verpestete.
»Vater Klein fragt sich, wieso du ihn laufen lässt?« Schmutzbart blickte auf sie herab und schien verwirrt. Auf seiner Robe klebte Blut.
Talisa schaute zu ihm hinauf und begriff nicht, wieso die Maske keine Wirkung auf ihn gehabt hatte. Möglich, dass ihn sein Wahnsinn vor psychischen Angriffen schützte.
Nur sehr zaghaft traute sie sich, den Blick auf die Barke zu richten. »Diese Maske, sie macht etwas mit mir, dass … « Es war das erste Mal, dass sie sich geschlagen fühlte.
Gib niemals auf, lass niemals jemanden über dich triumphieren.
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