Lois McMaster Bujold
Paladin der Seelen
Für Sylvia Kelso,
Satzbauzerpflücker und Ista-Fan erster Klasse
Ista beugte sich zwischen den Zinnen des Torhauses nach vorn, die bleichen Hände auf den rauen Stein gestützt, und beobachtete mit dumpfer Müdigkeit, wie unter ihr die letzten Trauergäste durchs Burgtor ritten. Die Hufe der Pferde scharrten über das alte Kopfsteinpflaster, und Abschiedsrufe hallten im Torbogen wider. Istas gewissenhafter Bruder, der Herzog von Baocia, reiste als Letzter ab, mitsamt seiner Familie und dem Gefolge, volle zwei Wochen nach den Trauerfeierlichkeiten und der Bestattung.
Dy Baocia wechselte noch einige abschließende Worte mit Ser dy Ferrej. Der Majordomus der Burg lief neben dem Pferd des Herzogs her, blickte mit ernster Miene zu ihm auf und lauschte dem endlosen Redefluss. Letzte Anweisungen, zweifellos. Der treue dy Ferrej. Zwanzig Jahre lang hatte er der verstorbenen Herzoginwitwe gedient — während der langen Zeit ihrer Hofhaltung in Valenda. Noch immer schimmerten die Schlüssel von Burg und Festung an dem Gürtel, den der Herzog um die füllige Taille trug. Die Schlüssel ihrer Mutter. Zunächst hatte Ista diese Schlüssel an sich genommen und aufbewahrt, um sie später ihrem älteren Bruder zu übergeben, zusammen mit den Papieren, Bestandslisten und testamentarischen Verfügungen, die beim Tod einer Dame von Rang zurückblieben. Und dy Baocia hatte die Schlüssel nicht seiner Schwester zur ständigen Verwahrung zurückgegeben, sondern hatte sie dem guten alten, ehrbaren dy Ferrej ausgehändigt — Schlüssel, um jede Gefahr aus- und Ista einzuschließen, falls nötig.
Das ist bloß noch Gewohnheit. Ich bin nicht mehr verrückt.
Sie legte keinen großen Wert auf die Schlüssel ihrer Mutter, ebenso wenig auf das Leben, das damit verbunden war. Sie wusste selbst nicht recht, was sie wollte. Sie wusste nur, wovor sie Angst hatte: eingesperrt zu werden an einem dunklen, beengten Ort, von Menschen, die sie liebten. Ein Feind mochte in seiner Wachsamkeit nachlassen, seiner Verpflichtung müde werden und aufgeben; doch Liebe würde niemals wanken. Unruhig rieb Ista ihre Finger über den Stein.
Dy Baocias Schar ritt in langer Reihe den Hügel hinunter und durch die Stadt, und schon bald war sie zwischen den rot gedeckten und mit Menschen überfüllten Dächern verschwunden. Dy Ferrej wandte sich um. Müde schritt er zurück durchs Tor und verschwand im Innern der Burg.
Der Frühlingswind zupfte eine Strähne aus Istas fahlbraunem Haar und blies sie ihr übers Gesicht. Sie nahm die Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte sie zurück unter den sorgsam geflochtenen Haarkranz, der so straff saß, dass es ihr an der Kopfhaut zerrte.
In den letzten beiden Wochen war es wärmer geworden, doch der Wetterumschwung kam zu spät für die alte Frau, die von Verletzung und Krankheit ans Bett gefesselt gewesen war. Wäre Istas Mutter noch nicht so alt gewesen, wären die Knochenbrüche vielleicht schneller verheilt, und vielleicht hätte sich die Lungenentzündung dann nicht so tief in ihrer Brust festgesetzt. Wäre sie nicht so gebrechlich gewesen, hätte sie sich bei dem Sturz vom Pferd vielleicht gar nichts gebrochen. Und wäre sie nicht so starrsinnig gewesen, wäre sie in ihrem Alter gar nicht erst aufs Pferd gestiegen … Ista sah, dass sie sich die Finger blutig geschürft hatte. Rasch verbarg sie die Hand unterm Rock.
Während der Trauerfeier hatten die Götter Hinweise gegeben, dass die Seele der alten Dame von der Sommermutter aufgenommen worden war, wie es dem schicklichen Lauf der Dinge entsprach, und wie man es nicht anders erwartet hatte. Die alte Herzogin setzte ihre Vorstellungen von Sitte und Anstand sogar den Göttern gegenüber durch. Ista stellte sich vor, wie ihre Mutter den Himmel auf Vordermann brachte, und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Züge.
Nun bin ich allein.
Ista grübelte über die Einsamkeit nach, und darüber, was sie alles auf dem Weg hierhin verloren hatte. Nacheinander waren ihr Ehemann, ihr Vater, ihr Sohn und nun ihre Mutter vor ihr in den Tod gegangen. Und Iselle, ihre Tochter, wurde von der Königswürde von Chalion in Anspruch genommen.
Ista hatte alle ihre Pflichten erfüllt: Sie war die Tochter ihrer Eltern gewesen, die Ehefrau des erhabenen, unglücklichen Ias, die Mutter ihrer Kinder, und zuletzt die Hüterin ihrer Mutter.
Jetzt bin ich nichts mehr davon.
Wer aber bin ich, wenn die Grenzen meines Lebens nicht mehr fest abgesteckt sind? Wenn all diese Mauern zu Staub zerfallen sind?
Nun, sie blieb immer noch dy Lutez’ Mörderin. Die Einzige dieser kleinen, verschworenen Gemeinschaft, die noch am Leben war. Diese Rolle hatte sie selbst gewählt; das blieb ihr erhalten.
Wieder beugte sie sich zwischen den Zinnen nach vorn. Der raue Stein scheuerte an den lavendelfarbenen Ärmeln ihres Trauergewandes und riss einige Seidenfäden heraus. Die Straße lag im Licht des frühen Tages unter ihr, und sie ließ den Blick darüber schweifen, über die Pflastersteine unter dem Turm und den Hügel hinunter, durch die Stadt, über den Fluss … und wohin dann? Alle Straßen sind in Wahrheit nur eine einzige, hieß es. Ein großes Netz, das über dem Land lag, das sich verästelte und wieder zusammenlief. Und alle Straßen führen in zwei Richtungen, sagte man. Ich möchte einer Straße folgen, die nur in eine Richtung führt, aber niemals zurück.
Ein erschrockener Laut hinter ihr ließ Ista herumfahren. Eine ihrer Zofen stand auf dem Söller und blickte sie aus weit aufgerissenen Augen an, die Hand vor Schreck vor den Mund gehoben. Sie war immer noch außer Atem von dem Aufstieg über die Treppen und lächelte mit unaufrichtiger Fröhlichkeit. »Herrin, ich habe Euch überall gesucht. Wollt … wollt Ihr nicht von der Brüstung zurücktreten …«
Ista lächelte spöttisch. »Beruhigt Euch. Ich habe nicht vor, noch heute den Göttern von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.« Weder heute noch irgendwann sonst. Nie wieder. »Die Götter und ich, wir stehen nicht auf gutem Fuße.«
Ista ließ sich von der Zofe am Arm fassen und wie zufällig die Zinnen entlang und zur Treppe geleiten. Ista fiel auf, dass ihre Begleiterin sorgsam darauf achtete, zwischen ihrer Herrin und dem Abgrund zu bleiben. Beruhige dich, Frau. So sehr reizen die Pflastersteine im Hof mich nun auch nicht.
Aber die Straße reizt mich.
Diese Erkenntnis überraschte Ista, erschreckte sie beinahe. Der Gedanke war neu für sie. Ein neuer Gedanke, in meinem Kopf? Ihre alten Gedanken wirkten so stumpf und abgenutzt wie eine Strickarbeit, die immer wieder neu geknüpft und aufgeribbelt worden war, bis die Fäden ausfransten. Was sollte sie auf der Straße? Straßen waren für junge Männer, nicht für Damen mittleren Alters. Der arme Waisenjunge schnürt sein Bündel und folgt der Straße, um sein Glück zu suchen … Tausend Geschichten nahmen so ihren Anfang. Sie war nicht arm, und sie war kein Junge, und ganz gewiss hatte sie schon jedes Unglück erlitten, das Leben und Tod ihr bereiten konnten. Immerhin bin ich nun Waise. Ist das nicht Grund genug, die Reise anzutreten?
Sie bogen von der Brustwehr ab und hielten auf den runden Turm zu, in dem eine schmale Wendeltreppe hinunter in den Innenhof und den Garten führte. Ista warf einen letzten Blick auf das struppige Buschwerk und die verkümmerten Bäume, die bis hinauf zur Blendwand der Burg wucherten. Ein Pfad führte aus einem flachen Einschnitt heraus; gerade zerrte ein Dienstbote einen mit Feuerholz beladenen Esel diesen Pfad bis zur Seitenpforte hinauf.
Im immer noch kahlen Rosengarten ihrer verstorbenen Mutter wurde Ista langsamer und widersetzte sich dem Drängen ihrer Zofe. Störrisch ließ sie sich auf einer Bank nieder. »Ich bin müde«, sagte sie. »Ich will hier eine Zeitlang Rast machen. Bringt mir Tee.«
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