2016 erschien dann der siebte Roman mit dem programmatischen Titel »Selbst«, in dem sich der Autor selbst auftreten lässt. Das Muster wiederholt sich und wird zugleich subtil variiert. Abermals steht eine WG im Zentrum des Diskursgeschehens. Eva, Genoveva, Venus und ihre Liebhaber Henri und Sirius lesen und diskutieren sich durch den weit gefächerten Fundus der Debatten um Literatur, Philosophie, Kulturtheorie und Gender Studies bis zurück zu Texten von Bettina von Arnim und der Entdeckung einer Kolonie von deutschen Auswanderern in Texas aus dem Umkreis der Vormärz-Revolutionäre, die zurückverweist auf den ersten Roman »The Church of John F. Kennedy«. Zu den WG-Partner*innen gesellt sich nun auch Thomas »aus dem Voralpenland« 38alias Thomas Meinecke.
Selfies und Selbstbilder sind in Mode und scheinen den Zeitgeist exakt wiederzugeben. Thomas Meinecke gräbt jedoch unter diese Oberfläche, indem er die gesellschaftliche Konstruktion von Selbstbildern auf Funktion und Effekt hin befragt und sie mit eigenen Rollenerwartungen konfrontiert. Wenn auf der Buchrückseite der »lange erwartete Liebesroman« angekündigt wird, so ist das eine Diskursfalle. Es geht hier zwar um Sex und Porno, doch dieser »Liebesroman« des »feministischen Romanciers« Meinecke funktioniert anders. Der Diskurs ist die erogene Zone, die diskursive Distinktion ist selbst Teil einer zärtlichen Erfüllung. Schreiben sei weder Zeigen noch Aufzeigen, bemerkt eine der Protagonist*innen, es ist, entgegen »phallologischer Grammatik«, 39vielmehr eine Geste, um an den SINN ZU RÜHREN« 40– an das Eigene, an das Selbst. »Kurzum: ICH IST EINE BERÜHRUNG.« 41
Vielleicht ist es diesem Zeitgeist und den ihn imprägnierenden sozialen Medien zu verdanken, dass sich seine Prosa hier schwebender und leichter liest. Im Unterschied zur festgefügten Textur früherer Romane präsentiert sich »Selbst« lichter und offener, mit oft kurzen Absätzen von wenigen Zeilen, die nur lose miteinander verknüpft sind. Inhaltlich gewinnen knapp hingesetzte Referenzen sowie ausführliche Zitate in Deutsch oder Englisch an Gewicht. »Nur ein stilistisch als auch argumentativ OFFENER TEXT eignet sich dazu, von den LeserInnen in Form eigener Texte fortgesetzt zu werden« 42– wobei zahlreiche Rückgriffe auf die eigenen früheren Romane mit impliziert sind.
Thomas Meinecke bleibt sich treu und funktioniert weiterhin »wie ein Chronist, wie ein Abtastsystem, wie ein Aufnahmeapparat«. 43Er bildet ab, ohne normativ zu werten. Anything is worth it. So verblüfft es immer wieder neu, mit welcher Souplesse und Hintergründigkeit er seit den 1980er Jahren den Zeitgeist in seinen Büchern abbildet und diskursiv vertieft – und das nicht selten um Jahre vor ihrer breiten gesellschaftlichen Aktualität. Mit seinem Sensorium für solche Diskurse ist das literarische Schaffen von Thomas Meinecke auch ein feiner Seismograf für den gesellschaftlichen Wandel.
1Thomas Meinecke: »Donnerstag, der 10.12.2015«, in: »Akzente« 1 (2016), S. 84 f. — 2 https://www.youtube.com/watch?v=4dmCaEpCZp4(1.3.2021). — 3Leslie A. Fiedler: »Cross the Border. Close the Gap«, in: Uwe Wittstock (Hg.): »Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur«, Leipzig 1994, S. 14–39, hier S. 31. — 4Ebd., S. 17. — 5»Alles Mist. Thomas Meinecke über den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«, in: »Spiegel spezial: Pop & Politik« 2 (1994), S. 83. — 6Ebd. — 7 https://www.logbuch-suhrkamp.de/thomas-meinecke/clip-schule-ohne-worte-zweiundsiebzig(1.3.2021). — 8»›Pop ist ein totalitäres System‹. Interview mit Thomas Meinecke von Freiwillige Selbstkontrolle«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 22.2.2008. — 9Thomas Meinecke: »Neue Hinweise: Im Westeuropa Dämmerlicht 1981«, in: »Mode & Verzweiflung«, Frankfurt/M. 1998, S. 31–37, hier S. 32 f., 36. — 10Hubert Winkels: »Lob der Kybernetik. Thomas Meineckes Popprogramme und Prosaminiaturen«, in: Ders.: »Einschnitte. Zur Literatur der 80er Jahre«, Köln 1988, S. 201–220, hier S. 204. — 11Thomas Meinecke: »I gave my cock a woman’s name«, in: Andreas Neumeister / Marcel Hartges (Hg.): »Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion«, Reinbek 1996, S. 134–147. — 12Winkels: »Lob der Kybernetik«, a. a. O., S. 215. — 13Thomas Meinecke: »Holz. Erzählung«, Frankfurt/M., 1999, S. 102 f. — 14Daniel Lenz / Eric Pütz: »›Ich bin so ein Pop-Sommer-1982-Typ‹. Ein Gespräch mit Thomas Meinecke«, in: »Neue Zürcher Zeitung«, 23.8.1999. — 15Thomas Meinecke: »Handlung lenkt ab«, in: »Spex« 10 (1999); wieder abgedruckt in: Walter Grond / Beat Mazenauer (Hg.): »Das Wahre, Falsche, Schöne. Reality Show. Essays«, Innsbruck 2005, S. 129 f. — 16Lenz / Pütz: »›Ich bin so ein Pop-Sommer-1982-Typ‹«, a. a. O. — 17Thomas Meinecke: »The Church of John F. Kennedy. Roman«, Frankfurt/M. 1996, S. 48. — 18Ebd., S. 46. — 19Fiedler: »Cross the Border. Close the Gap«, a. a. O., S. 29. — 20»U-Boot-Ausschnitt«, in: Jochen Bonz (Hg.): »Sound Signatures«. Frankfurt/M. 2001, S. 141–155, hier S. 150. — 21Zit. nach: Hubert Spiegel: »Der Kranich hat niemanden, der mit ihm tanzt«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 24.11.1998. — 22»Alles Mist. Thomas Meinecke über den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«, a. a. O. — 23Thomas Meinecke: »Gesampeltes Gedankenmaterial«, in: »Frankfurter Rundschau«, 21.3.1998. — 24Thomas Meinecke: »Hellblau. Roman«, Frankfurt/M. 2001, S. 10. — 25Thomas Meinecke: »Lob der Kybernetik. Songtexte 1980–2007«, Frankfurt/M. 2007, S. 207. — 26Thomas Meinecke: »Musik. Roman«, Frankfurt/M. 2004, S. 189. — 27Meinecke: »Hellblau«, a. a. O., S. 143. — 28Ebd., S. 102. — 29Thomas Meinecke: »Feldforschung. Erzählungen«, Frankfurt/M. 2006, S. 63. — 30Thomas Meinecke: »Jungfrau. Roman«, Frankfurt/M. 2008, S. 328. — 31Meinecke: »Lob der Kybernetik. Songtexte 1980–2007«, a. a. O., S. 201. — 32Thomas Meinecke: »Lookalikes. Roman«, Berlin 2011, S. 95. — 33Ebd., S. 74. — 34Ebd., S. 75. — 35Thomas Meinecke: »Ich als Text. Frankfurter Poetikvorlesungen«, Berlin 2012, S. 332. — 36Thomas Meinecke: »Ich als Text (Extended Version)«, in: Ute Christine Krupp / Ulrike Janssen (Hg.): »Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute«, Frankfurt/M. 2000, S. 20. — 37Meinecke: »Feldforschung«, a. a. O., S. 60. — 38Thomas Meinecke: »Selbst. Roman«, Berlin 2016, S. 133. — 39Ebd., S. 97. — 40Ebd., S. 436. — 41Ebd. — 42Ebd., S. 260. — 43Thomas Meinecke: »›Ich bin wie der Thelonious Monk im Bebop – einer, der anders spielt‹«, Gespräch mit Anke Biendarra, in: »literaturkritik.de« 8 (2007).
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