Absolut wichtig. Und dann ist es ja auch hier so wie anderswo bei den Folgen für Marginalisierte und Unterdrückte in Sachen Kunst. Wenn ich jetzt zum Beispiel den Jazz als eine Folge einer postkolonialen Unterdrückung von Afroamerikanern sehe oder Camp und Voguing als eine hoch differenzierte Kulturform, die mit der Unterdrückung schwuler Männer zusammenhängt, dann gibt es immer ja auch mit dem, was du gerade sagtest, bei Frauen so etwas – wenn sie schon selbst nicht schreiben sollten, dass sie dann aus dem Ausgeschlossensein ganz großartige Dinge wie den Briefroman entwickelten, wo wir jetzt erst merken: Das ist ja eigentlich noch viel toller als so ein oller Goethe. Nehmen wir mal »Die Günderrode«, was da alles stattfinden konnte: »Die Günderrode« ist eigentlich ein riesiges Kompendium von Werken, sowohl von Bettina von Arnim als auch von der Karoline Günderrode, und es wird gar nicht klargemacht, wer gerade spricht. Es ist wie eine Werkausgabe zwischen zwei Buchdeckeln, trägt aber den Namen der Frau, die die meisten Texte darin sozusagen ›hat‹, aufgeschrieben aber von der Autorin von Arnim. Das ist eine unglaubliche Geschichte, die erst heute als reine Tugend erzählbar ist, während das damals eine Art Notlösung war, genau wie Voguing oder Minstrelsy oder eben auch Jazz, dass man praktisch ausweicht vor Restriktionen. Dieses weibliche Schreiben hat sich ja daraus entwickelt, dass es dieses Verbot gab, und es wurde etwas, bei dem ich das Gefühl habe, erst von da, wo jetzt politisch hingedacht wurde, kann man das eigentlich als vorbildlich, wegweisend und komplett revolutionär begreifen. Bisher wurde es immer als Manko – »Ja, es sind halt nur Briefe …« – gesehen. Aber was sich da im Hubert Fichte’schen Sinne auch an Empfindlichkeiten zum Ausdruck bringen konnte, ist einfach viel interessanter als die Empfindsamkeit dieser leidenden Genies, männlichen. Für meine Begriffe jedenfalls. Und da gibt es noch so viel zu entdecken.
Utrecht, 14.12.2019
Beat Mazenauer
»Weg mit dem Gehüstel der Geschichtenerzähler« Thomas Meinecke – Poetik und Werk Beat Mazenauer »Weg mit dem Gehüstel der Geschichtenerzähler«. Thomas Meinecke – Poetik und Werk Eckhard Schumacher Re-make / Re-model revisited. Über Thomas Meinecke, F. S.K. und die »Kunst des Zitats« Torsten Hahn Schwarze Flächen und weiße Leerräume. Selbst- und Fremdreferenz in der Oberflächenästhetik. (Eine Buchseite von Thomas Meinecke) Thomas Ernst Pop, Plagiat und Persönlichkeitsrechte. Thomas Meineckes Romanpoetik und das Recht Charlotte Coch Poetik der Regelkreise oder Thomas Meineckes erzählerische Ethik Daniela Gretz »Hubert Fichte (…), der hamburgische Pionier der Popliteratur im langen schwingenden Pelzmantel«. Thomas Meineckes Erfindung (s)einer Tradition Barbara Vinken Queering the opera: Mozarts / Da Pontes Cherubino d’Amore. Begehrte Travestie, travestiertes Begehren Charlotte Jaekel Vertikal/horizontal. Thomas Meineckes Prosa im Spiegel des 19. Jahrhunderts Bettina Bildhauer Meinecke als Mystikerin: Jenseits der Realität/Diskurs-Dichotomie Charis Goer Auswahlbibliografie Thomas Meinecke (1978–2021) Biografische Notiz Notizen
In der Literaturzeitschrift »Akzente« beschrieb Thomas Meinecke 2016 einen seiner Arbeitstage. An dem besagten 10. Dezember 2015 rief als Erster der Anglist und Übersetzer Werner von Koppenfels an, um über einen gemeinsamen literarischen Abend zu D. H. Lawrence zu sprechen. Dabei kam das Gespräch auch auf den gemeinsamen Freund Marcel Beyer. Bis drei Uhr morgens, fährt der Text fort, habe der Autor noch für den im Entstehen begriffenen Roman »Selbst« (2016) eine Quelle abgetippt, um mit ein paar Bemerkungen überzuleiten zu einer Lesung mit Frank Witzel, für die er auf seiner »Facebook Wall« noch ein Velvet-Underground-Cover gepostet hat. Er würde, während Witzel vorliest, Schallplatten aus dem Jahr 1969 vorspielen. Damit ist Meinecke bei der Musik angelangt. Neben der Arbeit am Text für »Akzente« suchte er Platten für ein DJ Set zusammen – »Besonders schön: Levon Vincents neue 12-inch aus pinkem durchsichtigem Vinyl« –, danach würde er eine »Zündfunk«-Radiosendung vorbereiten und sich dann zu einem Gesprächsabend an der Ludwig-Maximilians-Universität aufmachen. 1
Die zweitseitige Beschreibung klingt gänzlich unspektakulär und gibt vielleicht gerade deshalb Einblick in das Werk und Wirken Thomas Meineckes. Der gerafft wiedergegebene Tagesablauf demonstriert, wie sich bei ihm Grenzen auflösen und in ein fließendes Kontinuum geraten: Schreiben und Diskutieren, Literatur und Musik, Arbeit und Freundschaft. Abschließend weist auch der Titel der abendlichen Veranstaltung »Männer schreiben Frauen auf« darauf hin, dass Meinecke seit je die traditionellen Geschlechterrollen hinterfragt. In einem Video anlässlich einer Braunschweiger Poetikvorlesung im Mai 2019 bezeichnet er sich selbst als »feministischen Romancier«, der seit über 20 Jahren als Autor geprägt sei durch die Gender Studies, »wo die Idee einer geschlossenen Persönlichkeit, eines Subjekts, die einen Text verfasst, eigentlich auch unter die Lupe gelegt wird«. 2
Im inzwischen legendären Essay »Cross the Border. Close the Gap« hielt der US-Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler 1968 den Vertretern der literarischen Moderne ein neues ästhetisches Konzept entgegen. Mit Rückgriff auf den französischen Trompeter, Sänger und Schriftsteller Boris Vian plädierte er für eine »Überbrückung der Kluft zwischen Eliten- und Massenkultur«, ohne sich vor den »Formen des Pop« wie Western, Science Fiction oder Pornografie zu scheuen. Es gelte die traditionelle ästhetische (Rang-)Ordnung zu zerschlagen, mit diesem Ziel sei die Pop Art »subversiv, ungeachtet ihrer erklärten Absichten, und eine Bedrohung für alle Hierarchien, weil sie wider die Ordnung ist«. 3
Leslie A. Fiedlers Ruf nach einer ästhetischen und poetischen, zugleich »komischen, respektlosen und vulgären« 4Kritik erreichte die deutschsprachige Literatur schon vor Thomas Meinecke, doch in ihm hat sie ihren leidenschaftlichsten und konsequentesten Verfechter gefunden. 1994 erschien von ihm im »Spiegel Spezial« ein Aufsatz mit dem lakonischen Titel »Alles Mist«. Darin nimmt Meinecke, der wie Vian auch Trompete spielt und singt, Fiedlers Faden auf, allerdings argumentiert er nicht literarisch, sondern musikalisch. »Guter Pop war zu allen Zeiten ein Bastard, unrein, im besten Sinn volkstümlich, populär«, schreibt er und wendet sich so gegen »den Schwachsinn einer eigenständigen deutschen Popkultur«. Der deutschen Musik, insbesondere der deutschen Volksmusik, falle es schwer, sich von traditionalistischen Sentimentalitäten zu trennen, weshalb alles Mist oder Kitsch sei, was in diesem Bereich produziert werde. »In Amerika haben sie das besser gemacht«, kommt Meinecke zum Kern der Sache. »Amerikanische Folkmusic, ob Jazz, Bluegrass oder Zydeco, entsteht gerade durch das Gegenteil von musealer Traditionspflege, chauvinistischer Wurzelsuche oder des bei uns so unheilvoll grassierenden Authentizitäts- und Identitätswahns, sondern vielmehr durch das Vertrauen auf produktive Missverständnisse, nicht zuletzt durch migratorische Entwurzelung.« 5Damit hat er den Dreh- und Angelpunkt auch seines eigenen Schaffens formuliert. Im Umfeld der Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«, für die er ab 1978 erste Texte schrieb, entstand 1980 die von Meinecke zusammen mit Michaela Melián, Justin Hoffmann und Wilfried Petzi gegründete Band »Freiwillige Selbstkontrolle«, später kurz F. S.K. Die Band bedient sich bis heute bei Pop-Elementen, experimentiert aber auch ausgeprägt mit volkstümlicher Musik. F. S.K. mischt respektlos Stile miteinander, um »Genres zu erneuern, Identitäten zu überschreiten« und so einen Pop zu schaffen, der von jeglichem Heimat-Purismus befreit ist. In den muttersprachlichen Texten findet F. S.K. nicht »unsere Identität«, wie Meinecke in »Alles Mist« schreibt, »sondern unsere Abweichung«, denn »Kultur darf niemals zu sich selber finden«. 6
Читать дальше