In einer Vorbemerkung zur Videoclip-Kompilation »Schule ohne Worte«, die Meinecke im Suhrkamp-Logbuch unterhält, wird der Stellenwert von Musik »als das Medium der Dislokation, Dekonstruktion vermeintlicher Mitten, als vorrangiger Impuls- und Taktgeber im Schaffen des popistischen Romanciers« 7betont. Das klingt programmatisch; entsprechend macht Thomas Meinecke die »Dekonstruktion vermeintlicher Mitten« auch in seinem Schreiben produktiv. Pop wird auch literarisch zur griffigen Formel für das Aufbrechen herkömmlicher Normen und ihre ästhetische Überholung, Pop fordert das beständige Hinterfragen von Identitäten und Geschlechterrollen. In seinem Verständnis markiert die Popkultur »eine Distanz zur Hochkultur«: Pop ist ein diagnostisches Instrument, das die Realität frei von elitärem Gehabe ins Visier nimmt und damit weit weg ist von dem, wie Meinecke 2008 in einem Interview sagt, ganz auf Affirmation angelegten »totalitären System« Pop. 8
In dem Sinn verbindet sich Pop mit analytischer Schärfe. Meinecke driftet nicht auf den Oberflächen umher, wie es dem landläufigen Pop zum Vorwurf gemacht wird, sondern wirft seine Fangnetze in unergründete Tiefen, um Verschollenes, Verdrängtes, Verachtetes zu heben mit dem Ziel, das »Queerpotenzial« unserer hybriden Kultur zu erkennen und herauszuarbeiten. Pop meint hier, resolut die Ordnungsstrukturen zu hinterfragen und sie in einem literarischen Sound so subtil zu zitieren wie virtuos zu remixen. Das Wort »Gedanken-Pop«, das Jörg Drews in einer Rezension zu »Tomboy« verwendet, ritzt auch nur die Oberfläche. Thomas Meinecke zielt tiefer, analysiert die kulturelle Dichotomie von wertschätzender Traditionsorientierung und oberflächlicher Zeitgenossenschaft wie kaum ein anderer Autor und entlarvt sie als falsch. Insofern weist Pop bei ihm weit über die musikalische und literarische Genrefragen hinaus.
Resolut formuliert es Thomas Meinecke bereits in einem seiner frühesten Texte: »Neue Hinweise: Im Westeuropa Dämmerlicht 1981« für die »bohemistische« Zeitschrift »Mode & Verzweiflung«. Zur Maxime erhebt er das »Kybernetische Verhaltensprinzip«, das als »Absage an das Prinzipiendenken und an jede Form von Dogmatismus« zu verstehen ist. Es enthält ein striktes »Ja zur Modernen Welt« sowie die Gegnerschaft zur eskapistischen »neuen Hippie-Generation«. »Wir Kybernetiker«, gipfelt das Konzept darin, müssen »unsere Wachsamkeit in Spiel und Revolte der ständig veränderten Situation anpassen: Heute Disco, morgen Umsturz, übermorgen Landpartie. Dies nennen wir Freiwillige Selbstkontrolle« 9– in ironischer Anlehnung an die Wiesbadener FSK, die Selbstzensuranstalt der deutschen Filmwirtschaft. Das ist Diskurs-Pop – hier allerdings noch in satirischer Verkleidung.
Schon 1986 war Meineckes Erstling »Mit der Kirche ums Dorf« erschienen, eine Auswahl von Kurzprosa, die er von 1978 bis 1986 für »Mode & Verzweiflung« und ab 1982 für »Die Zeit« verfasst hatte. Darin – und in der 12 Jahre später erschienenen Anthologie »Mode & Verzweiflung« – schöpft er kräftig aus dem narrativen Volksvermögen, indem er Geschichten aus den Medien variiert und die Perspektive des trägen TV-Publikums zum Standard erhebt. Sich selbst hält der Erzähler diskret hinter einem ungreifbaren »Wir« versteckt. Meineckes sarkastische Spitzen zielen direkt auf den Typus des »68er-Gutmenschen«, der seine ehrlichen, persönlichen Animositäten oft nur notdürftig unter dem Mäntelchen der political correctness verbirgt. Dabei schreckt Meinecke in perfider Unbefangenheit auch nicht vor taktlosen Bemerkungen zurück, die durch deftige Pointen und absurd wirkende Fotoillustrationen noch akzentuiert werden. Die zugespitzten Formulierungen, mit denen er die Populär- und Unterhaltungskultur aufs Korn nimmt, täuschen nie über den unterschwelligen kulturtheoretischen Ernst hinweg. Auch wenn Meinecke sichtlich nicht der 1968er-Euphorie im Geist Fiedlers anhängen mochte, ließ er dennoch durchblicken, dass auch ihm die Grenzüberschreitung und die Überwindung der Gräben ein dringliches Anliegen war.
Mit Blick auf die kurze Prosa jener Jahre hat Hubert Winkels einmal von »Pop-Singles« 10geschrieben, die auf die performative und die musikalische Passion Meineckes verweisen. Davon zeugt auch ein ebenso schräges wie stilbildendes Gespräch mit Thomas Palzer über Gender-Diskurs, Büstenhalter und »Identitäts-ähm-pulverung« unter dem Titel »I gave my cock a woman’s name«. 11Der Dialog wird laufend von gehäuften und daher störenden »äh«- und »ähm«-Lauten interpunktiert, was allerdings weder Versehen noch Unvermögen signalisiert, sondern ein Konzept: Das ursprünglich spontan geführte Gespräch wurde verschriftlicht und danach auf der Bühne nachgespielt. Der dabei eintretende Verlust an expressiver Spontaneität mündet in eine »parasitäre Rede«: 12einen Sekundärdiskurs mit hörbar vorgestanzten Redewendungen. Einem solchen Sekundärdiskurs – freilich nicht mehr in ironischer Brechung, sondern ernsthaft und literarisch virtuos – sollte sich Meinecke nun zuwenden.
Er äußerte sich immer wieder in Interviews und Textbeiträgen über seine Poetik. Auf ein traditionelles Erzählen hat Thomas Meinecke nie hingeschrieben. »Was war aber der Schriftsteller an sich bereits für eine traurige Figur«, heißt es in der frühen Erzählung »Holz« (1988), wenn dieser, beispielsweise »der bloßen Überleitung halber, das leise Knarren etwa seiner Zimmertür beschrieb …« 13
In einem Interview 1999, kurz nach Erscheinen des Romans »Tomboy« (1998), bekundete Meinecke sein Misstrauen »gegenüber der Eingebung und dem Genie, [ich] verfahre selbst lieber mit Versatzstücken, Zitaten, mit – und jetzt werde ich wieder modisch – Samples«. 14Und wenig später doppelt er in einem programmatischen Beitrag für die Zeitschrift »Spex« nach. Unter der Überschrift »Handlung lenkt ab« erteilt er jeder performativen wie narrativen Sentimentalität eine Absage, weil sie nur »Ablenkung vom Text« sei und alte literarische Klischees reproduziere. »Ich will überhaupt keine Fiktion. Ich will null Ausgedachtes. Nicht das Originelle. Nicht die Erfindung«, formuliert er, um zu folgern: »Weg mit dem Gehüstel der Geschichtenerzähler. Grundsätzlich: Sogenannte Wissenschaft ist mir Fiktion genug. Wissenschafts-Fiktion als sprichwörtlich wahrhaftige Science Fiction.« 15
Meinecke sprengt die gängigen Muster des stringenten Erzählens und psychologischen Ausmalens. Kurze anekdotische Einschübe beleben lediglich atmosphärisch und topografisch die Diskussionen seiner Spielfiguren. Er zieht es vor, von sich als Autor wegzuschreiben und stattdessen Diskurse, Texte, Theorien, Lektüren durch sich hindurchziehen zu lassen, um ihnen in seiner Diskursprosa auf biegsame Weise Ausdruck zu verleihen. Faction lautet das poetische Prinzip, dem er auf unvergleichliche Weise Ausdruck verleiht. Meinecke spiegelt laufende Diskurse ab und bettet sie in ein subtil gesponnenes Netz von oft verblüffenden Beziehungen ein, sodass sie in ihrer Ernsthaftigkeit zuweilen spröde wirken, doch insgeheim immer wieder auch Anlass zu Komik und Heiterkeit geben. Der Autor wird zum DJ, sein Schreiben zum Plattenauflegen und der Text zum Soundmix: »nur ist da kein Plattenkoffer, sondern ein Bücherregal, Kisten mit Büchern oder Büchertürme auf dem Fußboden, neben mir oder auf dem Tisch, und da ziehe ich mir das so raus, wie es mir passt, in einer bestimmten Reihenfolge, die schon auch intuitiv abläuft«. 16Damit sprengt er allerdings den populären Pop-Begriff. Wie Pop dennoch als Diagnose der Dissidenz und als kulturologische Analyse funktioniert, demonstrieren seine Romane, die ab 1996 in regelmäßigen Abständen erscheinen.
Als Erstes war es »The Church of John F. Kennedy« (1996), worin Thomas Meinecke seine Protagonisten ins amerikanische Pop-Zentrum eintauchen lässt. Der Roman ist als literarisches Roadmovie angelegt: Mit einem klapprigen Chevrolet reist der Mannheimer Privatgelehrte Wenzel Assmann von New Orleans aus quer durch die Südstaaten der USA, auf den Spuren der deutschen Auswanderung im 19. Jahrhundert. Eine Zeit lang wird er von der deutschstämmigen Viertelindianerin Barbara Kruse begleitet, die ihm beispielhaft die gebrochenen Identitäten vorführt, die den amerikanischen Melting Pot auszeichnen. Zwischendurch telefoniert er nach Deutschland mit Erika, die ihm von den turbulenten Entwicklungen berichtet, die Europa in jenen Wendejahren 1990 und 1991 umtreiben.
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