Die derzeitige Debatte um KulturKultur in den Wissenschaften, womit man meist deren gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Mehrwert unausgesprochen meint, und Kulturwissenschaft bewegt sich zwischen Feuilletonismus und Heilsversprechen. Einführungsbände für Studierende werden geschrieben, obgleich sich der Begriff Kulturwissenschaft nahezu täglich weiter diffundiert.7 Ist eine KulturgeschichteKulturgeschichte der Kulturwissenschaft eine neue Megadisziplin, die das disziplinär vereint, was different nur schwer nebeneinander bestehen kann? Die Festlegung auf Texte als Träger kultureller Prozesse bedeutet die Rückkehr zu einem (hoch-)kulturellen Textverständnis, ist aber nicht Ausdruck eines textualistischen Kulturbegriffstextualistischer Kulturbegriff.8 Im unmerklichen Wechsel vom Plural Kulturwissenschaften zum Singular Kulturwissenschaft bestätigt sich das alte philologische Gebot der Lectio difficilior. Die schwierigere Lesart ist die ältere, nivellierende Tendenzen in Wahrnehmungsformen und Gestaltungsweisen zeigen sich zuerst im Prozess der sprachlichen Vereinfachung. Auch dies ist bereits ein kulturwissenschaftliches Phänomen.
Quo vadis Kulturwissenschaft? Rätselhaft scheint sie zu sein, diese Wissenschaft von der KulturKultur, rätselhaft und verborgen. Betrachtet man die Hilfsangebote der Nachbardisziplinen, der Philosophie, der Geschichte, der Semiotik, der Soziologie, so ist auch hier eine zunehmende Ausdifferenzierung der Diskurse festzustellen. Oswald Schwemmers explizit so genannte Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften (1987) lässt die Leser ratlos zurück, die sich über die Bandbreite der Kulturwissenschaften informieren, sich ein Bild von einer Theorie der Kulturwissenschaften machen wollen.9 Auch die Kulturwissenschaftliche Hermeneutik (1996) von Roswitha Heinze-Prause und Thomas Heinze trägt zur Klarstellung wenig bei.10 Dieser Ansatz, der auf den Arbeiten des Soziologen Oevermann beruht, verfolgt eine objektiv-strukturale HermeneutikHermeneutik des Textes – wobei als TextText auch sprachliche Interaktion allgemein begriffen wird –, die einen totalen, um nichts weniger autoritativen objektiven Verstehensanspruch jenseits subjektiver und individueller Deutungsvoraussetzungen für sich reklamiert. Applikationen auf die LiteraturLiteratur fehlen. Die Frage, was Kulturwissenschaft ist, bleibt bei der Beantwortung der Frage, was Kultur sei, meist auf der Strecke.
„Kulturwissenschaften sind also diejenigen Denkweisen, die auf redliche Weise begründete Behauptungen zu Kultur als dem grundsätzlich variablen Repertoire an Vorstellungen, Verhalten und Verhaltensprodukten machen, in der Hoffnung, sie mögen auch bei dauerhafter Prüfung plausibel sein, und mit der Bereitschaft, sie bei angekratzter Plausibilität und besserer Begründung zu revidieren“11.
Fraglich bleibt dabei, ob diese Definition wirklich als Arbeitsprogramm taugt. Die meisten Versuche, eine transparente und intersubjektiv überprüfbare Nomenklatur zu finden, scheitern daran, dass Kultur und Kulturwissenschaft deskriptiv, aber nicht normativ definiert werden. Unter dem Stichwort Methodologisches zu den Kulturwissenschaften plädiert Gotthart Wunberg für die Rückbesinnung auf Georg SimmelSimmel, Georg. Wie Simmel vor hundert Jahren die Soziologie als Synthesewissenschaft mitbegründet und ihren eklektischen Charakter zur Stärke der neuen Disziplin gemacht habe, so könne das „Projekt Kulturwissenschaften […] seiner Genese und seinen Gegenständen nach zunächst nichts anderes sein als eine Neuformulierung der einstmals in den Philosophischen Fakultäten institutionell gebündelten Inhalte […]. Sämtliche Disziplinen der alten Philosophischen Fakultät […] sind virtuelle Kulturwissenschaften“.12 Unklar, weil unausgeführt, bleibt die Formulierung, Kulturwissenschaften stellten keine Einzeldisziplin dar, „sondern eine diese Einzeldisziplinen gegenseitig erschließende Methode“13. Die Vorstellung einer einheitlichen Methodik gleicht einem Omnipotenzphantasma, das gegen die methodische Vielfalt in der kulturwissenschaftlichen Debatte zielt. Aber diese sollte bewahrt bleiben, da nur sie der Vielfalt kulturwissenschaftlicher Forschungsgegenstände angemessen sein kann. Kulturwissenschaft ist eine Brückenwissenschaft, Einzeldisziplinen sind Pfeilerwissenschaften. Die Geschichtswissenschaft hat schon vor einigen Jahren eine Art Zwischenbilanz zur Terminologiediskussion von KulturgeschichteKulturgeschichte und Kulturwissenschaft gezogen. Für die Herausgeber des Sonderheftes Kulturgeschichte Heute ist der Begriff Kulturgeschichte zu einem „dominierenden revisionistischen ‚Fahnenwort‘ geworden“14, das auf die Kritik an der Historischen Sozialwissenschaft zielt. Die Herausgeber konzedieren dem Kulturbegriff eine regulative Funktion, die im Sinne eines historiografischen Verständnisses von Gesamtgesellschaft eben nicht nur die historische Entwicklung von Kultureliten, sondern auch die sogenannte Alltagsgeschichte, Mentalitäten, soziale Handlungsmuster etc. umfasst. Gewarnt wird freilich zu Recht vor einer keineswegs neuen Form von „Totalitätsutopie“15, wonach diese Megadisziplin – oder genauer müsste man von einem Megaphantom sprechen – eine definierte Erklärungsallmacht besitzt.
Der Philosoph Ralf Konersmann nennt KulturKultur „die Bewahrung des Möglichen. Die Weite ihres Horizonts ist der Lohn der Kontingenz“16. Seine These lautet, „die häufig beobachtete und beklagte Unschärfe des Kulturbegriffs ist diesem unveräußerlich […]. Kultur ist, was man außerdem macht: Handlungsnebenfolge“17. Kulturphilosophie wird hier zu einer Spurensuche dessen, was nicht gegenwärtig ist, Kultur ist demnach in ihrer Abwesenheit anwesend. Kultur sei „unverfügbar. Sie wird nur mittelbar, in den Problemen dingfest, die man ohne sie nicht hätte“18. Wie aber hat man sich das vorzustellen? Diese Unschärfe des Kulturbegriffs bedingt möglicherweise das, was Eckhard HenscheidHenscheid, Eckhard unter dem Lemma Kulturbegriffskultur verzeichnet hat.19 Und Harry Haller, Hermann HessesHesse, Hermann Steppenwolf seines gleichnamigen Romans von 1927, fragt: „War das, was wir ‚Kultur‘ […] nannten, war das bloß ein Gespenst, schon lange tot und nur von uns paar Narren noch für echt und lebendig gehalten?“20 Geoffrey HartmanHartman, Geoffrey wiederum hat uns das Diktum von Max WeberWeber, Max in Erinnerung gerufen: „‚Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“21. Hartman stellt sich und seinen Leserinnen und Lesern die bedrückende Frage, ob das Reden über KulturKultur in den vergangenen fünf Jahrzehnten (wobei er diesen Zeitraum nach dem Holocaust mit Bedacht wählt) mehr bewirkt habe, als in den 200 Jahren davor.22 Doch gibt es zum Wissenschaftsfatalismus keinen Grund. Die historische Wirkung von Rede und vom Reden liegt jenseits rhetorischer Strategien, die Wissenschaft hat sich von Heilserwartungen frei zu halten, holistische Welterklärungsmodelle, auch wenn sie modisch schick als KulturtheorienKulturtheorie auftreten, sind heute mehr denn je unangebracht. Die geistreichen Aperçus über Kultur indes sind nahezu unerschöpflich. So zitiert HartmanHartman, Geoffrey etwa aus EmersonEmerson, Ralph Waldos Essay CultureCulture : „Kultur ist ein Korrektiv gegen Erfolgstheorien“23. Man könnte diese Sentenz auch dahingehend variieren, dass man sagt, Kulturtheorien scheinen ein Korrektiv gegen Erfolg zu sein. Gewiss, Kultur braucht man nicht im Sinne einer unerlässlichen Zweckanwendung; die Menschen brauchen keine Kultur, es gibt keinen notwendigen Grund, weshalb wir Kultur benötigten, weshalb Opernhäuser und Schrift, Tischsitten und Umgangsformen, Kommunikationsweisen, VerhaltensstandardsVerhaltensstandard und BewusstseinsformenBewusstseinsformen existieren. Nur, ohne Kultur ist der Mensch nichts, ohne Kultur gäbe es den Menschen nicht, und ohne Kultur lebten wir immer noch vegetativ oder primatenhaft. Der Evolutionsanthropologe Michael TomaselloTomasello, Michael definiert kulturell „im Sinne des Zusammenlebens und gegenseitigen Verstehens (und Mißverstehens), was die Grundlage allen menschlichen Soziallebens ausmacht“ und entwickelt die These, „daß die menschliche Kognition aufgrund der menschlichen Gemeinschaft so ist, wie sie ist, d.h. aufgrund jener besonderen Form soziokultureller Interaktion und Organisation (jener traditionellen Lebensweise), die sich bei keiner anderen Art auf diesem Planeten findet“.24 So erscheint ihm eine natürliche Sprache als eine „symbolisch verkörperte soziale Institution, die sich historisch aus zuvor existierenden sozio-kommunikativen Tätigkeiten entwickelte“25. Menschliche SymboleSymbol seien „wesentlich sozial, intersubjektiv und perspektivisch“, darin würden sie sich grundsätzlich von den anderen Formen der „sensu-motorischen Repräsentation“ unterscheiden, „die allen Primaten und anderen Säugetieren gemein ist“.26
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