Allgemein lassen sich für eine Sozialgeschichte der Literatur vier programmatische Punkte formulieren. Erstens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht Texte (in die Systemsprache übersetzt sind dies literarische Kommunikationshandlungen) im Hinblick auf die vier differenten Handlungsbereiche von Produktion, Distribution, Rezeption und Verarbeitung. Allerdings bleibt unklar, in welcher Hinsicht diese Handlungsbereiche different sind, ob gesellschaftlich, historisch, diskursiv oder vom Status der theoretischen Explikation her gesehen. Zweitens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht die differenten Kommunikationsräume und Teilsysteme des Sozialsystems Literatur. Drittens, eine Sozialgeschichte der Literatur untersucht die Spezifika und die Ergänzung des literarischen Handelns zu anderen Kommunikationshandlungen in anderen Sozialsystemen. Viertens, eine Sozialgeschichte der Literatur analysiert die Beziehung des Sozialsystems Literatur zu anderen Sozialsystemen im Makrosystem Gesellschaft.45
Das Modell einer SozialgeschichteSozialgeschichte der LiteraturLiteratur will Monokausalität und Substanzialisierungen bei der Darstellung und Analyse historisch umfassender Prozesse abwehren.46 Obwohl eine Annäherung der Sozialgeschichte der Literatur an die ZivilisationstheorieZivilisationstheorie skeptisch beurteilt wird, ergäben sich an diesem Punkt Möglichkeiten einer Diskussion des Modells einer zivilisationstheoretisch ausgerichteten LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft auf der Grundlage der ZivilisationstheorieZivilisationstheorie von Norbert EliasElias, Norbert.47 Texte werden als „Träger einer spezifischen – literarischen – Kommunikationsleistung“48 verstanden, die allerdings weit über den Status eines reinen Informationstransports hinausgehen würden. Eine SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur – was so viel heißt wie eine Geschichte des Sozialsystems LiteraturLiteratur – operiere mit einem erweiterten Literaturbegriff, der die kanonisierten, sogenannten Höhenkammtexte ebenso mit einschließt wie die Trivial- und Gebrauchsliteratur. Berücksichtigt werden sollen auch literaturbezogene Handlungen aus den Handlungsbereichen ProduktionProduktion, DistributionDistribution und RezeptionRezeption der Literatur. Der Handlungsbereich Verarbeitung wird in diesem Zusammenhang nicht mehr genannt.49 Die Orientierung an Talcott ParsonsParsons, Talcott’ Beiträgen zur funktionalistischen Handlungstheorie bleibt aber die Basis einer Sozialgeschichte der Literatur. Skepsis formulieren die Autoren gegenüber der luhmannschen Systemtheorie, die mit einem ontologisierenden Begriff des Kunstwerks operiere. Abgrenzungen werden gegenüber BourdieusBourdieu, Pierre Feld-Konzept und der foucaultschenFoucault, Michel Diskursanalyse angemahnt.50 Doch gerade am Gebrauch des Institutionenbegriffs könnte sich eine gemeinsame Schnittstelle zwischen einer Sozialgeschichte der Literatur münchener Provenienz und der Diskursanalyse foucaultscher Provenienz ergeben.51 Allerdings wird definitorisch festgelegt, dass die parsonssche AGIL-Matrix (verkürzt gesagt: Wirtschaft, Politik, Recht/Sozialkontrolle, Kunst/Wissenschaft/Religion als Funktionsbereiche auf der Systemebene des Gesamtsystems Gesellschaft)52 Gültigkeit besitzt, und sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein selbstständiges Subsystem benennen lässt, nämlich als Sozialsystem LiteraturLiteratur. Die Vorbehalte gegenüber dem handlungstheoretischen Defizit des systemtheoretischen Ansatzes sind nun aufgegeben. Stattdessen wird festgelegt:
„Literarisches Handeln ist eine Funktion von übergreifenden gesellschaftlichen Konstellationen und Prozessen, und es hat eine Funktion für die Situierung und Veränderung von gesellschaftlichen Vorgängen; es ist als gesellschaftlich bewirktes und zugleich als gesellschaftlich wirkendes Handeln zu verstehen (wenn auch Spektrum und Reichweite solcher Wirkungen begrenzt sind)“53.
Eine SozialgeschichteSozialgeschichte der Literatur erhebe wie alle Theoriebildung einen normativ-historiografischen Anspruch. Sie ziele auf eine Neumodellierung der literaturgeschichtlichen Periodisierungen. Die Gefahr einer bloßen Umschreibung (im Sinne von TransformationTransformation) bisheriger Epochenbegriffe wird aber erkannt. Wie dies konkret zu bewerkstelligen ist, bleibt indes unklar. Nachhaltig wird vor einem essenzialistischen Sprachgebrauch, der sowohl in der Systemtheorie selbst als auch bei den diversen Adaptionsversuchen in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft drohe, gewarnt. Aussagen wie ‚das System handelt, steuert oder entwickelt sich‘ seien ein Rückfall in ontologische Modellvorstellungen, die es abzuwehren gelte.54 Die Forderung nach mehr Empirie in der Literaturgeschichtsschreibung könnte man bereits als ein Rückzug aus der Theoriediskussion verstehen. Doch wird damit lediglich angemahnt, dass bei allem systemtheoretischen Überschuss einer theoretischen Grundlegung der Sozialgeschichte der Literatur das Datenmaterial, eben die Texte selbst, nicht vergessen werden dürften. Die Bemühungen der Münchener Arbeitsgruppe können in einem Satz zusammengefasst werden: „Sozialgeschichte der Literatur soll – im Sinne unseres Vorgehens – eine Perspektive literaturwissenschaftlicher Praxis entwerfen, die im zugeordneten Untersuchungszusammenhang theoretisch begründet, systematisch entwickelt und in ihren Erkenntniszielen kontrolliert ist“55.
Insgesamt wäre es unumgänglich, eine kritische, gleichwohl sorgfältige Diskussion mit Positionen der Systemtheorie, der Empirischen Literaturwissenschaft und des Radikalen Konstruktivismus zu führen. Dabei müsste geprüft werden, ob die Systemtheorie und die Empirische Theorie der LiteraturLiteratur sich tatsächlich einen monopolistischen Kommunikationsstatus verschaffen, der im Verbund mit dem systemtheoretischen Deduktionismus zu einer Kritikimmunisierung führt. Systemtheorie wäre demnach das System, das sich selbst erzeugt. Diskursanalytisch gesehen ist das, was diese Art von Systemtheorie generiert, der obsolet gewordene Versuch, Wahrheit über die Restituierung von Totalität zu normieren. Der Vorwurf der Generalisierung von Leerformeln, der sowohl an die Adresse der Systemtheorie als auch des Radikalen Konstruktivismus gelegentlich gerichtet wird, müsste genau geprüft werden. Auch hier gilt der bewährte Grundsatz, die Tauglichkeit einer Theorie zeigt sich erst in ihrer historischen Anwendung.
Zur Geschichte der textualistischen KulturtheorieKulturtheorie und mithin zur Geschichte des semiotischen KulturbegriffsKulturbegriff gehört, dass schon Friedrich SchlegelSchlegel, Friedrich im berühmten Athenäums-FragmentAthenäums-Fragment Nr. 216 diesen selbst ins Spiel gebracht hat: „Selbst in unsern dürftigen KulturgeschichtenKulturgeschichte, die meistens einer mit fortlaufendem Kommentar begleiteten Variantensammlung, wozu der klassische Text verloren ging, gleichen, spielt manches kleine Buch, von dem die lärmende Menge zu seiner Zeit nicht viel Notiz nahm, eine größere Rolle, als alles, was diese trieb“56. Neu ist der semiotische Kulturbegriff also nicht, für die Theoriediskussion in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft war er aber ungemein stimulierend. Mitte der 1990er-Jahre befand Klaus P. Hansen über diesen Kulturbegriff:
„Wenn man ihn auf wirklich dialektische Weise verwendet, besitzt er das Zeug, die Kulturwissenschaften paradigmatisch auf ein neues Fundament zu stellen. Er könnte der Ausgangspunkt werden sowohl für weiterführende theoretische Überlegungen als auch – und das insbesondere in den Landeskunden – für neue Forschungspraxis. So alt die Kulturwissenschaften sind, sie stehen wieder einmal am Anfang“57.
Zum Heilsversprechen tritt nun die Heilserwartung. Dass damit auch der semiotische KulturbegriffKulturbegriff überfordert ist, liegt auf der Hand.
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