Gleichsam in den Rang eines Locus classicus wurde der Aufsatz von Clifford GeertzGeertz, Clifford Dichte BeschreibungDichte Beschreibung (1973) erhoben.58 Im Theorievertrieb wird dieser Publikation geradezu als Keimzelle der Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie gehuldigt. Ich fasse jene wesentlichen Aspekte und Akzente von Geertz zusammen, die in der kulturwissenschaftlichen Debatte in Deutschland eine zentrale Rolle spielen. Geertz beruft sich zunächst auf Max WeberWeber, Max, um sein Verständnis eines semiotischen Kulturbegriffs darzulegen.
„Ich meine […], daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen“59.
Den Ausdruck dichte Beschreibung übernimmt Geertz von Gilbert RyleRyle, Gilbert. Darunter versteht Geertz das, was man traditionell als InterpretationInterpretation, also als die eigentliche Deutungsarbeit der Fakta und Positiva bezeichnet, welche der Ethnologe – um diesen Wissenschaftstypus geht es Geertz allein – im ethnografischen Arbeiten leistet. „Analyse ist […] das Herausarbeiten von Bedeutungsstrukturen […] und das Bestimmen ihrer gesellschaftlichen Grundlage und Tragweite“60. Interessant dabei ist, was Geertz innerhalb dieses Zitats in einer Parenthese anführt. Eine literaturwissenschaftlicheLiteraturwissenschaft Tätigkeit dürfe nicht mit dem Vorgang des Dechiffrierens verwechselt werden. Die Chiffre eignet dem Objekt, mithin bedeutet Dechiffrieren den Zugang zu den Objektchiffren freilegen. Literaturwissenschaftliches Arbeiten hingegen ist für Geertz ein wissenschaftliches Sekundärphänomen, nämlich das der DeutungDeutung des Objekts durch den Interpreten. Doch dagegen muss geltend gemacht werden, dass Chiffren sich nicht von selbst und nicht sich selbst deuten. Die Ethnografie ist für Geertz dichte Beschreibung, es geht dabei um die „Vielfalt komplexer, oft übereinander gelagerter oder ineinander verwobener Vorstellungsstrukturen, die fremdartig und zugleich ungeordnet und verborgen sind“61. KulturKultur sei öffentlich – mit dieser Behauptung eröffnet GeertzGeertz, Clifford den dritten Teil seines Essays. Kultur bestehe aus Ideen, sei unkörperlich und ihr ontologischer Status uninteressant. Es geht allein um die Frage nach der Bedeutung der Kultur oder kultureller Phänomene. Und nun schließt sich der Kreis, „Kultur ist deshalb öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist“62. „Als ineinandergreifende Systeme auslegbarer Zeichen […] ist Kultur keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, in dem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind“63. Ethnologie, welche diese Beschreibungsarbeit leistet, ist eine Form der InterpretationInterpretation zweiter und dritter Ordnung. Ethnologische Interpretationen sind FiktionenFiktion, wobei Geertz ausdrücklich darauf hinweist, dass sich dieser Begriff nicht auf den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern allein auf den Aspekt des Hervorbringens, des Gemachtseins bezieht. Etymologisch zwar korrekt, terminologisch aber problematisch verweist er auf die ursprüngliche Bedeutung von fictio als Gemachtes, Gebildetes. Fiktion indes meint sowohl umgangssprachlich als auch wissenschaftlich etwas Erfundenes; hier müssen also die Rezipierenden entscheiden, ob sie der eigenwilligen Lesart von Geertz folgen mögen oder ob sie etwas in diese vermeintliche Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie über die Brücke der Wortgleichheit hineinlesen, das Geertz ausdrücklich ausschließt. Was die Qualität einer Interpretation ausmacht, erklärt Geertz ebenfalls. Er spricht nicht von der richtigen oder der wissenschaftlichen, sondern von der guten Interpretation. Die gute Interpretation „von was auch immer – einem Gedicht, einer Person, einer Geschichte, einem Ritual, einer Institution, einer Gesellschaft – versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird“64. Methodologisch gesehen nähert sich dies einem hermeneutischenHermeneutik Verständnis der Kayser-Staiger-Schule in der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft und zielt letztlich auf die interpretatorische Feier einer Affirmation des Gegenstandes, restaurative Bedeutung anstelle kritischer DeutungDeutung, statt der Fragen an den Gegenstand nun geheiligte Emphase.65 Eine ethnologische Interpretation, so Geertz weiter, versucht den sozialen Diskurs niederzuschreiben, ihn festzuhalten. Dieser Moment der Verschriftlichung garantiert Dauer des Flüchtigen. Dies gilt allerdings, so kann man kritisch einwenden, allgemein für sprachliche Konzeptualisierungsformen sozialen Handelns. Das Besondere der ethnografischen Interpretation scheint lediglich im Gegenstandsbereich der Beschreibung, nicht aber im Beschreibungsvorgang selbst zu liegen. GeertzGeertz, Clifford macht in diesem Zusammenhang auf ein grundlegendes Problem aufmerksam, das er zwar eng am Beispiel seiner Disziplin diskutiert, das sich aber ebenso gültig für jegliche Form kulturwissenschaftlichen Arbeitens in Anschlag bringen lässt. Die InterpretationInterpretation folge dem triadischen Erkenntnisschema der Beobachtung, der Verschriftung und der Analyse.66 Diese drei Schritte lassen sich aber in der Regel nicht voneinander differenzieren, es sind keine autonomen Operationen. Geertz diskutiert dieses Problem nicht erkenntnistheoretisch in der Form, dass bereits die Beobachtung beispielsweise geleitet werden kann von Verschriftungspraktiken und Analyseinteressen. Er hebt auf einen anderen Aspekt ab, wonach der Eindruck der operativen Autonomie dieser drei Schritte eine WirklichkeitWirklichkeit und eine Wissenschaft von der Rekonstruktion dieser Wirklichkeit suggeriert, die es nicht gibt. Geertz hält dagegen: „Die Untersuchung von KulturKultur besteht darin (oder sollte darin bestehen), Vermutungen über Bedeutungen anzustellen, diese Vermutungen zu bewerten und aus den besseren Vermutungen erklärende Schlüsse zu ziehen“67. Auch hier findet sich kein Hinweis auf eine wenigstens in Ansätzen zu erkennende Kultur-als-Text-Kultur als TextTheorie. Demnach fußt die kulturwissenschaftliche Arbeit letztlich auf Plausibilitätsüberlegungen, die ein emphatisches InterpretierenInterpretieren voraussetzen; das bleibt aus der Sicht der LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft ein fragwürdiges Verfahren. Abschließend benennt GeertzGeertz, Clifford vier Merkmale einer ethnografischen Beschreibung: sie ist deutend; sie deutet den Ablauf des sozialen Diskurses; Deuten heißt die Dauerhaftigkeit dieses Diskurses sichern (die Begründung, weshalb dies so ist, bleibt unklar); und sie ist mikroskopisch.68 Geertz begreift also keinesfalls Kultur als TextKultur als Text, sondern die Ethnologie und Ethnografie als Interpretation vorgängiger Zeichen- bzw. SymbolkettenSymbol, die wiederum nicht die KulturKultur sind, sondern zu denen Kultur lediglich den, wie er es nennt, Rahmen darstellt. Undeutlich bleibt bei Geertz auch, ob sein Verständnis von analytischer Tätigkeit (etwa in der Herausarbeitung von Bedeutungsstrukturen) diese Tätigkeit am Erkenntnisgegenstand selbst oder in der Gegenstandserkenntnis meint. Sind Bedeutungsstrukturen dem Wissenschaftsobjekt inhärent oder dem wissenschaftlichen Subjekt? Auf welcher Seite der Erkenntnisarbeit also sind Bedeutungsstrukturen zu veranschlagen? Immerhin konzediert Geertz, dass Bedeutung eine „schwer faßbare und verworrene Pseudoeinheit“ sei, die man bislang nur zu gerne den Philosophen und Literaturwissenschaftlern „zum Herumprobieren“ überlassen habe.69
Andreas Reckwitz hat die Überlegungen von Geertz einer ausführlichen Kritik unterzogen. Ebenso kritisch werden auch deren Kritiker betrachtet. Reckwitz kommt zu dem bedeutenden Schluss, dass die KulturtheorieKulturtheorie von Geertz sich keineswegs auf ein textualistisches Kulturverständnis reduzieren lasse, sie seien nicht mehr als eine „Episode“70. Reckwitz geht davon aus, dass die texualistischen KulturtheorienKulturtheorie mit dem Vorverständnis eines autonomen Sinns operieren, den die kulturell codierten Signifikate vor aller Erkenntnis enthielten.71 Reckwitz definiert diesen Ansatz folgendermaßen:
Читать дальше