Schließlich sah Oberinspektor Brand ein, dass derartige Ermittlungen ihn nicht weiterbrachten. Überdies gelangte er mehr und mehr zur Überzeugung, dass weitere Nachforschungen im Falle Dietz vergebliche Liebesmüh waren, und die Aufklärung des Giftmordes verlief im Sande. Bald schwieg auch die Tagespresse und kaum ein Frankfurter zerbrach sich noch den Kopf über das vergiftete Dienstmädchen Gerlinde Dietz, die ja, wie jedermann inzwischen wusste, ein schlimmes Frauenzimmer war, und da brauchte man sich über ein ebensolches Ende nicht zu wundern.
4Seit dem Frankfurter Wachensturm von 1833 war von einigen beherzten Bürgern mit Metzgermeister Martin May und dem Bierbraumeister Balthasar Rupp eine Bürgerschutzwache aufgestellt worden, in die alle Nicht-Stadtwehrpflichtigen eintreten sollten. Als Erkennungszeichen trugen sie eine graue Armbinde. Die Frankfurter nannten diese freiwillige Bürgerwehr ›Graumänner‹.
Sidonie Weiß saß wie jeden Abend an ihrem Sekretär und schrieb, was ihr momentan gar nicht so recht von der Hand gehen mochte, denn sie musste immer wieder an das ermordete Dienstmädchen denken und daran, was ihr der kleine Rudi Schickel heute früh erzählt hatte. Wie immer, wenn ihr nichts mehr einfiel, warf sie einen Blick auf den gerahmten Scherenschnitt Friedrich Hölderlins, der über ihrem Schreibtisch hing. Unter dem Porträt des Dichters stand ein Zitat aus dem ›Hyperion‹:
›Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie.‹
Welch ein Genie, ging es dem Fräulein beim Anblick des Porträts durch den Sinn, und eine tiefe Wehmut erfasste sie. Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Rotweinglas und beschloss, eine Pause einzulegen. Zuweilen beflügelte sie das Bildnis Hölderlins und entlockte ihr die wunderbarsten Gedanken. Manches Mal aber überkam sie bei seiner Betrachtung eine lähmende Trübsal, der sie sich ganz und gar hingab. Zumindest für eine kleine Ewigkeit. Für eine kleine Ewigkeit, die sie sich zugestand und gleichzeitig auch begrenzte. Denn früh hatte sie gelernt, dass sich die Welt wieder drehen musste, damals, als sie ihm begegnete, im Hause ihrer Cousine, Susette Gontard.
Es gibt ein Gegengift, selbst für die Unbill einer unerwiderten Liebe!
Sidonie trat ans Fenster und öffnete die beiden Flügel. Eine frische Abendbrise wehte ihr entgegen. Sie schaute hinunter auf die Töngesgasse. Es dämmerte bereits. Über den Häusergiebeln konnte sie schon den Abendstern erkennen. An dem milden Spätsommerabend war die Gasse voller Leben. Junge Leute standen lachend und scherzend vor den Häusern, Gassenkinder tollten herum, Frauen saßen am Fenster und hielten einen Plausch mit der Nachbarin, und die Männer kamen von der Arbeit nach Hause. Während das Fräulein verschiedene Leute grüßte und Grüße erwiderte, hielt sie Ausschau nach Rudi. Bald konnte sie den Jungen in einer Gruppe von Kindern ausmachen, die Fangen spielte. Sie rief nach ihm. Der Junge unterbrach sein Spiel, kam herbeigelaufen und erkundigte sich, mit hochgerecktem Kopf unter dem Fenster stehend, was das Fräulein von ihm wolle.
»Komm bitte morgen früh um acht Uhr zu mir, mein Junge. Dann gehen wir zusammen zur Hauptwache, und du sagst dem Inspektor alles, was du mir heute Vormittag erzählt hast!«, teilte ihm das Fräulein in freundlichem, aber bestimmtem Tonfall mit, der keinen Widerspruch duldete.
»Ach, Fräuleinsche, ich will aber net auf die Gendarmerie! Könne Sie da net allein hingehen und denen erzählen, was ich Ihnen gesagt hab?«, erkundigte sich Rudi flehend.
»Nein, es ist wichtig, dass du mitkommst. Du brauchst dich doch nicht vor denen zu fürchten, du hast ja schließlich nichts ausgefressen, oder?«, bemerkte Sidonie schelmisch. »Komm, sei nicht so ein Angsthase, so kenn ich dich ja gar nicht. Außerdem bin ich ja dabei. Also sei bitte pünktlich. Ach, warte mal, hier hast du noch was.« Sidonie warf dem Jungen einen Apfel zu und begab sich wieder an ihr Schreibpult.
Fast trotzig blickte sie auf das Gemälde, das über dem Konterfei Hölderlins an der Wand angebracht war. Es stammte aus dem späten Mittelalter und war das Porträt ihrer Ahnin, Katharina Weiß von Limpurg, der Sidonie mit ihren kupferroten Haaren, der feinen, bleichen Stirn und den meergrünen Augen auffallend glich. Katharina war eine sehr gebildete, kultivierte Dame. Sie sprach und schrieb fließend Latein und verfasste Chroniken sowie eine Vielzahl gelehrter und erbaulicher Schriften. Sidonie, die sich seit ihrer frühen Jugend schriftstellerisch betätigte, war sie ein großes Vorbild.
Wundersam getröstet, ergriff sie ihre Feder und schrieb bis nach Mitternacht weiter.
Sidonie Weiß, die im ausgehenden 18. Jahrhundert als einzige Tochter einer vornehmen, aber verarmten Frankfurter Patrizierfamilie geboren worden war, schrieb seit nunmehr 35 Jahren und hatte in dieser Zeit über 20 Bücher veröffentlicht. Ihre Kriminalromane und Schauergeschichten erfreuten sich weit über die Grenzen ihrer Heimatstadt hinaus großer Beliebtheit, bekannt war sie vor allem aber auch durch ihre Liebesgedichte. In den vornehmen Literarischen Salons Frankfurts, in denen Sidonie ihre Werke gelegentlich zum Vortrag brachte, fragte man sich im Stillen, wie es kam, dass eine blaustrümpfige, alte Jungfer, als die das Fräulein doch bei aller Liebenswürdigkeit gelten musste, in der Lage war, derart ergreifende Liebesempfindungen zu Papier zu bringen.
Sidonies Mutter starb kurze Zeit nach der Geburt ihrer Tochter am Kindbettfieber. Als Sidonie fünf Jahre alt war, erlag ihr Vater der Schwindsucht. Die Waise fand Aufnahme in der Familie ihres wohlhabenden Onkels, Christian Koch, wo sie gemeinsam mit ihren drei Cousins und der drei Jahre älteren Cousine Susette aufwuchs und erzogen wurde. Susette war für Sidonie bald wie eine geliebte Schwester, und Sidonie wurde wie eine leibliche Tochter behandelt. Sie erfuhr alle Vorzüge eines wohlhabenden, großbürgerlichen Haushalts und erhielt eine Erziehung, wie sie höheren Töchtern zukam. Im Gegensatz zu ihrer hübschen Cousine Susette war Sidonie mit ihren roten Haaren, den vielen Sommersprossen und dem leichten Silberblick nicht gerade eine Schönheit. Während sich im Hause Koch die jungen Kavaliere um Susette förmlich zu drängen begannen, schätzte man die unscheinbare Sidonie wegen ihrer Gutartigkeit höchstens als liebe Freundin. Schon früh hatte sie sich, ohne je darüber zu murren, mit ihrer Rolle als Mauerblümchen abgefunden. Während andere junge Damen von nichts anderem als von Bällen und Gesellschaften sprachen, interessierte sich Sidonie nur für Bücher, was dazu führte, dass sie bereits in jungen Jahren außerordentlich gebildet war – weitaus gebildeter, als man es einer Dame der Gesellschaft zubilligte. Sie begann, Geschichten und Gedichte zu schreiben, und versäumte kaum einen Literarischen Zirkel, der in den großbürgerlichen Salons Frankfurts abgehalten wurde. Ihre ganze Liebe und Verehrung galt der Literatur, und sie hatte das große Glück, zahlreichen namhaften Dichtern und Gelehrten persönlich zu begegnen.
Als Susette schließlich den Frankfurter Bankier, Jakob Gontard, heiratete, holte sie Sidonie als ihre engste Vertraute zu sich in die Villa Gontard, um in dem riesigen, kalten Mausoleum, wie sie es zu nennen pflegte, nicht so allein zu sein, denn ihr Gatte verbrachte weitaus mehr Zeit in seinem Bankhaus als mit seiner jungen Gemahlin. Sidonie, die Susette förmlich vergötterte, stellte ihre eigene Existenz wie selbstverständlich in den Dienst der schönen Cousine. Sie stand ihr während ihrer Schwangerschaften bei und wurde der keineswegs glücklich verheirateten Susette zur Seelentrösterin. Im Jahre 1796 stellte Jakob Gontard für seine Söhne den jungen Friedrich Hölderlin als Hauslehrer ein. Schon bald verliebte sich der Dichter in Susette, die ihrerseits, mit ihrer Ehe unzufrieden, Hölderlins Zuneigung erwiderte und eine heimliche Liaison mit ihm einging. Die beiden Verliebten bemerkten nicht, dass Sidonie, Susettes guter Geist, auf ihre stille, verhaltene Art ebenfalls in den jungen Dichter verliebt war. Diese Liebe blieb für Sidonie ein sorgsam gehütetes Geheimnis. Einzig ihrer Feder öffnete sie ihr Herz und ließ ihren Gefühlen so freien Lauf.
Читать дальше