Oberinspektor Klaus Brand wirkte weniger wie eine Amtsperson, sondern eher wie ein in die Jahre gekommener Lebemann. Seine Kleidung war von nachlässiger Eleganz, und Schuch fiel auf, dass er nach Wein roch. Offenkundig verärgert darüber, bei seiner Vesper gestört worden zu sein, war sein Ton gegenüber Schuch gereizt. Er forderte ihn auf, zunächst einmal zu beschreiben, wie sich alles zugetragen hatte, und stopfte sich in aller Ruhe eine Tabakspfeife.
Der Droschkenkutscher berichtete, dass die junge Frau um kurz vor halb fünf bei ihm eine Kutsche angemietet und im Voraus bezahlt habe. Als Fahrtziel habe sie den Lorberg oberhalb des Dörfchens Bornheim angegeben. Kurz vor der Abfahrt sei dann noch ein Mann zugestiegen.
»Können Sie den beschreiben?«, erkundigte sich Brand.
»Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich hab doch vorne auf dem Kutschbock gesessen und der kam von hinten. Ich hab von oben eigentlich nur gesehen, dass er einen hellen Zylinderhut aufhatte, und dann ist er auch schon in der Kutsche verschwunden.«
»Das ist ja mehr als dürftig«, erwiderte der Inspektor vorwurfsvoll.
Schuch zuckte mit den Achseln und brummelte, dass er es nicht ändern könne. Der Inspektor befahl ihm, weiter zu berichten.
»Dann war weiter nix mehr, und als wir auf dem Lorberg angekommen sind, hab ich von oben an die Kutsche geklopft und laut gerufen, dass wir da sind. Doch da hat sich nix gerührt. Da hab ich einen Augenblick gewartet und noch mal gerufen. Und als sich dann immer noch nix gerührt hat, bin ich vom Kutschbock gestiegen und hab nachgeguckt, und da hab ich die Frau drinnen liegen sehen. Das war kein schöner Anblick, das kann ich Ihnen sagen. Die hat so verkrümmt dagelegen und ihr Gesicht war furchtbar aufgedunsen! Ganz furchtbar! Und da hab ich mir gleich gedacht, dass da was net stimmen kann, und bin hierhergefahren.«
»Haben Sie den Mann noch gesehen?«
»Nein, der war längst über alle Berge. Ist bestimmt während der Fahrt ausgestiegen. Davon hab ich aber nichts mitgekriegt.«
»Gut, dann gehen wir jetzt zur Kutsche, damit ich mir die Tote ansehen kann. Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen, das von Belang sein könnte?«
»Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist, aber ich hab die Frau schon öfter gefahren. Die war immer in Herrenbegleitung, und manchmal ging es da drinnen in der Kutsche auch ein bisschen galant zu, wenn Sie wissen, was ich meine.« Schuch senkte verschämt den Blick.
»Nein, das weiß ich nicht!«, entgegnete der Inspektor barsch und ersuchte den Kutscher um eine genauere Aussage.
»Ei ja, wenn Sie’s genau wissen wollen, die war’n da drinnen halt am Pimpern.«
»Und war das immer der gleiche Mann, der mit der Frau in die Kutsche gestiegen ist, oder waren das verschiedene Männer?«
»Das waren, soweit ich mich erinnern kann, immer verschiedene Männer.«
»Also handelt es sich bei der da draußen um ein liederliches Frauenzimmer. Ich guck mir die jetzt mal an. Vielleicht ist die ja gar nicht tot, sondern hat einfach nur zu viel Branntwein gesoffen. Das wär ja nicht das erste Mal, bei solchen Weibern!« Brand erhob sich widerwillig von seinem Schreibtischstuhl.
Nach einer kurzen Begutachtung der Toten ließ der Inspektor das anatomische Institut des Senckenbergianums verständigen, um die Leiche abzuholen und zu sezieren. Die Handtasche, ein violetter Pompadourbeutel aus Satin, die neben der Leiche auf der Kutschenbank lag, hatte Brand an sich genommen. Darin befanden sich ein Fläschchen Rosenöl, ein Taschentuch, eine Geldbörse mit 25 Kreuzern, ein Hornkamm sowie ein Schlüsselbund. Sonstige Dinge, die Hinweise auf die Identität der Toten hätten liefern können, waren nicht vorhanden.
Am Montagmorgen erstattete der Städtische Leicheninspektor, Heinrich Hoffmann, Bericht, demzufolge die Tote an einer Atemlähmung gestorben war, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem toxischen Stoff verursacht worden war. Da sich allerdings keinerlei Rückstände im Blut und den Organen nachweisen ließen, mutmaßte der Leichenbeschauer, es müsse sich um ein Gift mit sehr kurzer Zerfallszeit handeln. Diesbezüglich mochte sich Doktor Hoffmann jedoch noch nicht genauer festlegen. Es gäbe mehrere Möglichkeiten, die er aber erst genauer prüfen müsse.
Nachdem eine natürliche Todesursache bei der gesunden jungen Frau laut Doktor Hoffmann eindeutig auszuschließen war, stellte sich für den ermittelnden Polizeiinspektor die Frage, ob es sich hier um eine Selbst- oder Fremdtötung handelte.
Bereits am Tag darauf klärte sich für den Inspektor glücklicherweise auf, wer die Tote war. Ihre Herrschaft, das Ehepaar Saltzwedel, hatte, nachdem ihr Dienstmädchen bereits den zweiten Tag abgängig war, eine Vermisstenmeldung eingereicht. Die Identifizierung der Leiche durch den Herrn Apotheker Ottmar Saltzwedel erwies, dass es sich bei der jungen Frau tatsächlich um die Kammerjungfer Gerlinde Dietz handelte.
Aufgrund der Befragung ihrer Herrschaften und ihrer Tante Emilie Dietz aus Offenbach, die übereinstimmend aussagten, dass die Tote weder jemals Selbsttötungsgedanken geäußert habe, noch in ihren Lebensumständen ein plausibler Grund für eine solche Tat vorhanden sei, musste im Fall der jungen Frau von einem Mord ausgegangen werden. Bezüglich Täter und Motiv tappte die Polizei im Dunkeln. Von dem liederlichen Nebenerwerb der jungen Frau, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit neben ihrer Tätigkeit als Dienerin als Prostituierte betätigte, wussten weder ihre Herrschaften noch ihre Tante und zeigten sich darüber sehr betroffen.
In den Augen Inspektor Brands gewann der Fall dennoch an Klarheit: Gerlinde Dietz war Mutter von zwei unehelichen Kindern und führte zudem noch einen höchst unsoliden Lebenswandel, indem sie neben ihrer Tätigkeit als Dienstmagd der Prostitution nachging. In einem solchen Milieu seien ja Mord und Totschlag an der Tagesordnung, erklärte der Inspektor der Journaille gegenüber. Man müsse hier vermutlich von Mord aus niederen Beweggründen wie etwa Eifersucht oder Neid ausgehen.
Im Frankfurter Konversationsblatt war zu lesen, dass es sich bei dem ermordeten Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, um die gestrauchelte Tochter anständiger Frankfurter Bürger gehandelt habe, die nichts unversucht gelassen hätten, die Widerspenstige wieder auf den rechten Weg zu führen. Doch leider hätten sie dafür nur Undank geerntet. Die braven Leute wären über das schlimme Ende von Gerlinde untröstlich, obgleich sie, nach den Bekundungen der Mutter, so etwas schon immer hätten kommen sehen. Gerlinde Dietz war, wie der renommierte Zeitungsschreiber Schirrmann dank sorgfältiger Recherche und Befragung im Umfeld der Toten herausfand, eine leichtlebige, verantwortungslose Person, der einzig die Ausschweifung etwas bedeutet hatte. Um ihrem Lotterleben ungezügelter frönen zu können, hatte sie ihre beiden Kinder zu einer alten Tante abgeschoben und sich kaum mehr um die armen Würmchen gekümmert. Gottlob war die Städtische Fürsorge durch den schrecklichen Vorfall auf das Elend der Kinder aufmerksam geworden und hatte sie in ein Waisenhaus eingewiesen.
Inspektor Brand, der den Mörder im Prostituierten-Milieu vermutete, ließ in den folgenden Wochen verstärkt Razzien in den Bezirken der Straßenprostitution vornehmen, die bekanntlich auch von Gelegenheitsprostituierten aufgesucht wurden. Mehrere Huren, überwiegend heruntergekommene Straßendirnen, wurden in Arrest genommen und verhört. Keine von ihnen war jedoch auch nur annähernd in der Lage, stichhaltige Hinweise zur Aufklärung des Giftmordes zu liefern. Alle Frauen erklärten übereinstimmend, die Ermordete weder persönlich gekannt noch jemals in den Gegenden des Straßenstrichs gesehen zu haben.
Als sich in der folgenden Zeit ein Großteil des Frankfurter Gendarmerie-Korps und der freiwilligen Bürgerwehr zu nachtschlafender Zeit in den stillen Winkeln des Rossmarkts und der Mainzergasse herumdrückte, sich am Leonhards Tor und an der Rückseite des Römer-Rathauses gegenseitig auf die Füße trat, und die versteckten Winkel der Wall-Anlagen ebenso durchstreifte wie das gesamte Klapperfeld, blieben die Huren und ihre Kundschaft allmählich weg. Die Gassendirnen verfluchten die Allgegenwart der Ordnungshüter, die ihnen das Geschäft ruinierten, und waren schon dabei, sich neue Schlupfwinkel auszusuchen, als die für sie so lästigen Streifzüge endlich ein Ende fanden.
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