Gerlinde betrachtete die langen, dünnen Beine ihres Begleiters in den enggeschnittenen, hellgrauen Bügelhosen, die unter den Schuhen befestigt waren. Beim Hinausgehen tauschte sie noch einen vielsagenden Blick mit Irmgard, die ihr aufmunternd zunickte. Schweigend gingen sie zum nahe gelegenen Friedberger Tor, wo vor den Eingängen der Promenaden mehrere Kutschen und Droschken bereitstanden.
»Meine Liebe, wären Sie vielleicht so freundlich, schon eine Kutsche für unsere Zwecke anzumieten? Sagen Sie dem Kutscher, dass er uns zum Lorberg fahren möge und dass wir unterwegs nicht gestört zu werden wünschen. Sie wissen, was ich meine. Bezahlen Sie am besten im Voraus. Hier, das dürfte wohl genügen.« Der Mann gab Gerlinde einige Münzen und erklärte, er halte sich so lange im Hintergrund, und wenn sie alles erledigt habe, solle sie ihm einen Wink geben, er würde dann zusteigen. Als Gerlinde sich den Kutschen näherte, wurde sie von einem der Kutscher, der auf einem Kutschbock saß, mit anzüglichem Grinsen gefragt, ob sie denn wieder eine ›Porzellankutsche‹ benötige. Gerlinde kannte den Mann. Schon mehrfach hatte sie seine Kutsche für ein Rendezvous genutzt, ein in galanten Kreisen weitverbreiteter Brauch. Häufig standen Droschkenkutscher mit Kupplern und Prostituierten in Geschäftsverbindung. Gegen ein entsprechendes Trinkgeld stellten sie bereitwillig ihre Kutsche für ein Stelldichein von Hure und Freier zur Verfügung. Die Wagen waren eigens für solche Zwecke mit blickdichten Gardinen versehen, die man zuziehen konnte, und die Sitze waren besonders weich gepolstert. Auf Wunsch fuhren die Kutscher so langsam und sachte, als hätten sie zerbrechliches Porzellan geladen, weswegen eine solche Fahrt im Volksmund auch als ›Porzellanfuhre‹ bezeichnet wurde. Gerlinde trat an den Kutscher heran, bezahlte ihn und erteilte Anweisung, wohin es gehen sollte. Dann gab sie dem im Schatten eines Baumes wartenden Herrn ein Zeichen, dieser eilte herbei, und beide stiegen ein.
Gleich darauf setzte sich die Droschke in Bewegung, und der vornehme Herr zog sofort die Gardinen vor die Fenster. Im gedämpften Tageslicht saßen sich Gerlinde und ihr Freier im Kutscheninnern gegenüber. Die Stimmung war angespannt. Da zog der Mann ein kleines Päckchen aus seinem Gehrock und reichte es Gerlinde mit den Worten: »Ein kleines Präsent für Sie. Ich hoffe, Sie mögen Pralinen?«
»Vielen Dank, der Herr! Sehr freundlich. Ja, ich nasche für mein Leben gern«, bedankte sie sich artig und bewunderte die kleine Bonbonniere, die in Seidenpapier mit der Aufschrift der feinen Konditorei Krantz eingeschlagen war. Gerlinde freute sich tatsächlich über das nette Mitbringsel. Eine solche Freundlichkeit seitens eines Freiers hatte sie bisher noch nicht erlebt. Deshalb mochte sie ihm nun auch ein wenig entgegenkommen und setzte sich neben ihn. Sie schmiegte sich an ihn und erkundigte sich flüsternd nach seinen Wünschen. Der Mann zuckte zusammen und rückte zur Seite, als wäre ihm die Berührung unangenehm.
»Begebe sie sich doch bitte wieder auf Ihren Platz!«, maßregelte er Gerlinde in kaltem Tonfall, sie in der dritten Person ansprechend, wie man es Domestiken gegenüber für angemessen erachtete und fuhr, ein wenig milder werdend, fort: »Nichts für ungut, aber wir haben ja schließlich noch Zeit genug, und mit Verlaub, ich habe es auch nicht so eilig. Vielleicht können wir uns ja ein wenig unterhalten und, meine Liebe, Sie können doch einstweilen schon einmal von dem Konfekt kosten«, forderte er Gerlinde auf und lächelte sie zum ersten Mal an. Gerlinde erwiderte sein Lächeln und nickte zustimmend.
Was für ein Stockfisch! Dem muss man Zeit lassen. Das wird ein schweres Stück Arbeit werden!
Sie gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass es sich bei ihrem Begleiter um einen sehr schüchternen jungen Mann handeln müsse, der wahrscheinlich noch nie intimen Kontakt zu einer Frau hatte. Andererseits kam er ihr aber auch recht sonderbar vor, und es wurde ihr ganz mulmig in seiner Gegenwart. Mit dem lapidaren Gedanken, dass sie halt an ein verstocktes Söhnlein aus gutem Hause geraten war, rief sie sich wieder zur Räson und öffnete ihr Geschenk. Drei herzförmige Pralinen der Geschmacksrichtungen Nugat, Vollmilch und Zartbitter waren in der mit Spitzenpapier ausgelegten Schachtel angeordnet wie ein dreiblättriges Kleeblatt. Auf einem rosafarbenen Deckblatt aus Seidenpapier befand sich in schwungvollen, goldenen Buchstaben die Aufschrift: ›Viel Glück!‹
Gerlinde war gerührt. »Das kann ich brauchen. Wie schön! Fast zu schade zum Aufessen«, bemerkte sie lächelnd und hielt ihrem Begleiter, bevor sie zugriff, die geöffnete Bonbonniere hin. Der junge Mann lehnte höflich ab. Er mache sich nicht viel aus Süßigkeiten. Gerlinde hatte sich für die helle Nugatpraline entschieden. Während sie die Süßigkeit genüsslich auf der Zunge zergehen ließ, musste sie plötzlich an ihre Buben denken. Sie wird die restlichen Pralinen für die beiden aufheben und sie ihnen das nächste Mal mitbringen. Aber so gut schmeckt die Praline gar nicht, sie schmeckt irgendwie bitter, dachte sie dann bei sich.
Gerlinde spürte auf einmal ein unangenehmes Brennen und Kribbeln am ganzen Körper, und es wurde ihr so kalt, dass sie zu schlottern anfing. Mit klappernden Zähnen wollte sie ihren Begleiter um Hilfe bitten, doch sie brachte keinen Ton hervor. Sie kriegte kaum noch Luft und hatte das Gefühl zu ersticken. In wilder Panik wollte sie die Kutschentür öffnen, doch sie konnte sich nicht mehr rühren.
Gerlindes Todeskampf dauerte zehn Minuten. Bei vollem Bewusstsein durchlebte sie die schlimmsten Todesqualen. Sah mit schreckgeweiteten Augen, die ihre Pein nur allzu deutlich widerspiegelten, wie ihr Begleiter sie die ganze Zeit mit regem Interesse beobachtete, dass er einen Schreibblock gezückt hatte, auf dem er sich eifrig Notizen machte.
Das Letzte, was sie vor ihrem Tod wahrnahm, war die grausame Kälte, die von ihm ausging, und viel zu spät erkannte sie, dass es kein Mensch war, der mit ihr in der Kutsche saß, sondern eine Bestie. Eine Bestie ohne jegliches Mitgefühl.
3›Batzen‹ = umgangssprachlich für Münzen von geringem Wert.
Das Dienstmädchen, Gerlinde Dietz, wurde von dem Droschkenkutscher Heinrich Schuch am Samstagabend gegen halb sechs tot in der Kutsche aufgefunden. Der aufgeregte Mann entschied sich, die Polizei zu verständigen, und fuhr mit der Ermordeten in der Kutsche vom Lorberg zurück nach Frankfurt. Der Beamte, der an diesem Sommerabend in der Amtsstube der Hauptwache Dienst tat, reagierte unwillig auf Schuchs Anliegen: »Für Mord und Totschlag bin ich net zuständig«, erklärte er dem Droschkenkutscher bärbeißig.
»Und wer ist dafür zuständig?«, erkundigte sich Schuch.
»Der Herr Oberinspektor Brand, der ist aber momentan net da.«
»Und wo ist der Herr Oberinspektor? Hätten Sie vielleicht die Güte, ihn herzuholen? Ich hab nämlich da draußen eine Leiche in der Kutsche, und keine Lust, die noch ewig spazieren zu fahren!«, entgegnete der Droschkenkutscher aufgebracht.
»Der ist beim Nachtmahlen drüben im ›Gesegneten Häuschen‹ am Römer. Ei, ich kann aber jetzt net fort, den holen gehen. Die Wache muss ja besetzt bleiben. Da müssen Sie halt warten, bis der wiederkommt. Des kann aber noch ein bisschen dauern, denn der ist grad erst vor einer Viertelstunde fortgegangen.«
»Also, das geht doch werklich net! Was seid ihr dann für Schlafmütze hier! Da werd ich mich beim Bürgermeister beschweren. Ich hab meine Zeit ja auch net gestohlen.«
»Ei, jetzt halte Sie aber mal die Füße still! Ich geh mal gucken, ob ich draußen einer von de Graumänner 4rummachen seh.«
Nachdem dieser Vorstoß tatsächlich von Erfolg gekrönt und ein Mann der freiwilligen Bürgerwehr unterwegs war, um den Inspektor zu benachrichtigen, dauerte es noch eine gute halbe Stunde, bis dieser endlich in der Hauptwache eintraf.
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