Während Gerlinde am Mainufer entlang in Richtung Frankfurt hastete, spürte sie die ganze Zeit einen Kloß im Hals. Am liebsten hätte sie sich in ein stilles, schattiges Eckchen am malerischen Mainufer zurückgezogen und sich ihrer Traurigkeit hingegeben. Nicht nur der Abschied von den Söhnen schmerzte sie in der Seele, sondern auch der Anblick der zahlreichen glücklichen Paare, die, einander untergehakt und mit ihren fröhlichen Kindern an den Händen, bei dem schönen Wetter einen Sommerspaziergang machten. Nur sie war auf sich gestellt und musste sich, anstatt bei ihren geliebten Buben bleiben zu dürfen, nun wieder mit einem wildfremden Mannsbild einlassen, vor dem es sie schon jetzt grauste. Aber sie brauchte das Geld, also musste sie sich zusammennehmen und durfte sich ihre Schwermut auf keinen Fall anmerken lassen. Sie schluckte ihre Tränen herunter und dachte wie so oft über ihren Plan nach, den sie vor einigen Monaten gefasst hatte: Sie würde sich weiterhin so gut es ging Geld zurücklegen, um sich in zwei, drei Jahren vielleicht eine Existenz als Putzmacherin aufzubauen. Sie wollte klein anfangen, in der Schneiderwerkstatt ihrer Tante, die ihr Stoffe und Dekorationen zuliefern könnte, und vielleicht würde sie es eines Tages sogar zu einem gut gehenden Laden mit Angestellten bringen, der sie alle ernährte, sodass sie nicht länger Dienstmagd sein müsste und ihren verhassten Nebenerwerb endlich loswürde. Und vor allem könnte sie dann wieder mit ihren Buben zusammenwohnen. Wäre das schön!
In solche Tagträume versunken, überquerte Gerlinde die Mainbrücke und ging durch die lange Fahrgasse, bis sie auf die Zeil stieß. Sie bog rechts in die Stelzengasse ab, lief an der nächsten Straßenecke links und erreichte rechter Hand endlich das Klapperfeld mit seinen vielen Gartenlokalen, die an dem herrlichen Wochenende voll gutgelaunter Gäste waren. Auch der Weingarten des Herrn Adam war gut besucht. Der Wein war eher mäßig, dafür aber billig, und an den Wochenenden wurde zum Tanz aufgespielt. Die einfachen Leute aus der Nachbarschaft nutzten den Garten als Stammlokal, und auch viele Dienstmädchen und Handwerksburschen verkehrten hier an ihren arbeitsfreien Tagen. Gerlinde hatte kürzlich mit einer jungen Frau namens Irmgard ein Glas Wein hier getrunken. Wie es der Zufall wollte, saß Irmgard mit einer Gruppe anderer Dienstmägde an einem Tisch und winkte Gerlinde zu. Die Frauen begrüßten sich, und Gerlinde wurde von Irmgard eingeladen, sich zu ihnen zu gesellen, was sie mit der Erklärung, sie habe gleich eine Verabredung, bedauernd ablehnte. Die Absage wurde von Gerlindes Bekanntschaft ohne großes Aufhebens akzeptiert. Irmgard war ebenfalls Gelegenheitsprostituierte und über Gerlindes Nebenerwerb im Bilde. Die beiden hatten sich an Nellys Blumenstand kennengelernt und bald darauf hier wiedergetroffen.
Gerlinde fand am Rande des Weingartens noch einen freien Tisch, an dem sie Platz nahm. Sie bestellte ein Glas säuerlichen Frankfurter Wein und hörte, dass es vom benachbarten Uhrtürmchen an der Friedberger Anlage vier Uhr schlug. Angespannt blickte sie sich um. Der kleine Tanzboden war voller Paare. Junge Gesindemägde und Wäscherinnen in geblümten Sommerkleidern tanzten mit Schneidergesellen oder Friseurgehilfen. Überall sah man verliebte Pärchen beim Turteln. Zuweilen zogen sich die Liebesleute in den verwinkelten Garten zurück, um sich im Schutz des Dickichts dem Liebesspiel hinzugeben. Viele der jungen Leute kannten sich untereinander und waren befreundet, das knappe Zehrgeld wurde zusammengelegt, und man machte sich einen vergnügten Nachmittag. Nicht wenige der Gäste waren bereits in angetrunkener Stimmung. Einzelne Frauen waren auffällig herausgeputzt. Sie trugen modische Kleider und ausgefallene Hüte wie Damen der besseren Gesellschaft. Gerlinde vermutete, dass es sich bei ihnen entweder um Mägde handelte, die wie sie der Gelegenheitsprostitution nachgingen, oder um die heimlichen Geliebten wohlhabender Herren, denn vornehme Damen, da war sie sich sicher, würden sich hier nicht aufhalten. Bessergestellte Herren hingegen schon. Auch heute sah sie wieder einige gutbetuchte Herren, die es nach einem amourösen Abenteuer mit einem einfachen Mädchen gelüstete, nicht zuletzt, weil sie dieses Vergnügen nicht viel kostete. Gerlinde erkannte an einem der Tische einen korpulenten älteren Herrn, vor dem Irmgard sie das letzte Mal gewarnt hatte. Es handele sich bei ihm um einen gewissen Herrn von Uhland und er sei sehr reich. Regelmäßig verbringe er die Wochenenden hier und halte Ausschau nach hübschen jungen Dingern. Gerlinde solle bloß die Finger von ihm lassen und ihm einen Korb geben, falls er ihr einen Antrag machen würde. Der alte Knabe sei nämlich die Knickrigkeit in Person. Sie habe einmal den Fehler gemacht und war auf ihn hereingefallen. Er habe nur den billigsten Wein bestellt und um jeden Kreuzer mit ihr gefeilscht. Im Weingarten habe er deswegen auch längst seinen Ruf weg. Hier hieße er bei allen nur noch der ›Batzemann‹ 3, weil er, obgleich sehr wohlhabend, niemals mehr als sechs Kreuzer für ein Schäferstündchen auszugeben bereit war. Was an sich schon eine Zumutung, bei einem so unansehnlichen alten Zausel aber ohnehin die reinste Heimsuchung sei. Gerlinde erinnerte sich, wie sie mit Irmgard darüber gescherzt hatte, und musste auch jetzt schmunzeln, als sie den alten Geizhals sah. Ein Fehler, wie sich herausstellte, denn der ›Batzemann‹ erhob sich von seinem Platz und steuerte zielstrebig auf Gerlinde zu. Auch das noch!, dachte sie verärgert, als in nächster Minute ein ganz anderer Herr vor ihrem Tisch stand und sie mit gedämpfter Stimme ansprach: »Verzeihung, die Dame! Habe ich das Vergnügen mit Fräulein Gerlinde?«
»Ja, das bin ich«, erwiderte Gerlinde erschrocken und fühlte, wie sie rot wurde. Sie hatte den Mann überhaupt nicht kommen sehen. Wie ein Geist war er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht und füllte nun ihr Blickfeld mit seiner großen, hageren Gestalt aus. Er verbeugte sich und erkundigte sich höflich, ob er Platz nehmen dürfe. Während er sich gegenüber von Gerlinde niederließ, brachte der Kellner den Wein. Der Mann nestelte sofort nach seiner Brieftasche und beglich die Rechnung. Gerlinde beobachtete ihn verstohlen. Er schien noch jung zu sein, vielleicht in ihrem Alter, was jedoch schwer zu bestimmen war, denn er hatte einen dichten Backenbart, und seine Augen waren von einer dunkel getönten Brille verdeckt. Er war sehr elegant gekleidet und trug einen sandfarbenen leinenen Gehrock. Der lange, schmale Hals war bis zum Kinn von einem Vatermörderkragen umschlossen und mit einer kunstvoll geknoteten Krawatte verschnürt, die auf seine geblümte Seidenweste farblich abgestimmt war. Trotz der Hitze hatte er Handschuhe an und trug den Zylinder aus beigefarbenem Filz tief in die Stirn gezogen.
Ein feiner Pinkel, genau, wie Nelly gesagt hat, ging es Gerlinde durch den Sinn. Für eine Weile herrschte betretenes Schweigen und Gerlinde nippte verlegen an ihrem Wein. Dann räusperte sich der Mann, zückte eine goldene Taschenuhr und warf einen kurzen Blick darauf.
»Meine Liebe, was halten Sie davon, wenn wir in Bälde aufbrechen? Heute ist fürwahr ein herrlicher Tag, und wir könnten doch eine kleine Ausflugsfahrt unternehmen. Vielleicht über Bornheim bis zum Lorberg hin und dort den schönen Ausblick genießen. Und auf der Rückfahrt könnten wir noch irgendwo nachtmahlen. Sie haben doch hoffentlich genügend Zeit mitgebracht?«
»Um halb sieben muss ich wieder in Frankfurt sein, mein Herr!«
»Das sollte uns genügen. Nun denn, erheben Sie sich!«, drängte er zum Aufbruch. Gerlinde ließ ihr halbvolles Weinglas stehen und folgte dem Herrn nach draußen.
Der hat es aber eilig! Man hätte sich ja erst mal ein bisschen in Stimmung trinken können. Ein komischer Heiliger ist das. So rappeldürr und eine Stimme wie eine Frau. Die reinsten Steckenbeine hat der!
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