Es dauerte eine ganze Weile, bis Raymund die Organisation der Büchsenmacherei durchschaut hatte. In der Halle vom Benzenauer arbeiteten neben dem Meister noch fünf Gesellen, drei Lehrbuben und neun Gehilfen. Alle waren in den verschiedenen Bereichen Gießerei, Mechanik, Schäfterei, Marqueterie und Ziselierung tätig. Im hinteren Drittel war die Gießerei mit den Schmelzöfen und den Gussformen für die Kanonen, Rohre und andere Aufträge. Ganz hinten gab es einen Raum, dorthin durften nur der Obergsell und der Meister. Was jenseits der eisernen Tür geschah, war ein großes Geheimnis, das die beiden offensichtlich aneinanderschweißte. An den Wänden der ganzen Werkstatt hingen Dutzende von verschiedenen halb fertigen Schlossmechanismen. Die Werkzeuge waren an den Außenwänden über den Werkbänken aufgehängt, auf die durch große Fenster das Tageslicht fiel. In einem Seitenraum war die Schmiede mit dem gewaltigen Blasebalg und der Esse eingerichtet. Die Gesellen teilten sich die Arbeitsbereiche und hatten dafür die Verantwortung zu tragen.
Nach einigen Tagen, an denen Raymund das Gefühl bekam, den Leuten nur im Weg zu stehen, schickte ihn der Obergsell mit dem Handkarren los.
»Bring gefälligst die Sachen, die auf dem Zettel stehen, hast lang genug dumm herumgestanden!«
Raymund schob den Karren aus dem Hof, nahm das Lehrbuch heraus und versuchte zu wiederholen, was da stand.
»Zu den Aufgaben der Büchsenmacher gehört die Herstellung aller Arten von Feuerwaffen wie Handbüchsen, Kanonen, Mörser und …« Der Meister Benzenauer hatte ihn die Grundsätze des Berufs in sein Lehrbuch schreiben lassen. Auswendig lernen war überhaupt nicht Raymunds Stärke, aber bis zur Brotzeit sollte er es können. »Und … und … Bombarden.« Immer wieder fiel ihm dieses dumme Wort nicht ein, Bombarden. Es juckte ihn in den Fingern, irgendein Werkzeug in die Hand zu nehmen. Stattdessen Theorie und unverständliche Begriffe wie Bombarden. »Sie beherrschen das Richten und Laden, die Instandhaltung und Reparatur der Stücke.« Den ganzen Weg, mit dem Handkarren in der einen und dem Lehrbuch in der anderen Hand, bläute er sich leise vor sich hinredend ein, was alles auf ihn zukommen würde. »… daneben stellen sie auch Geschosse, Schwarzpulver und Zündmechanismen her.« Ja, wenn er das denn schon tun dürfte, stattdessen fuhr er wie mit einem Kinderwagen in der ganzen Stadt umher, um die Einzelteile zusammenzuholen, die die Gesellen benötigten. Zuerst Kupferplatten beim Behringer, dann Holzschäfte aus Nussbaum vom Meister Madringer, der im Jakoberviertel seine Schreinerei hatte. »Der Büchsenmacher hat Kenntnisse von Metallguss für die Laufherstellung, von Alchemie für die Pulvermischung, von Mathematik und vom Messwesen für den Zielvorgang und von Architektur für das Zielobjekt.« Je schneller er das Zeug im Kopf hatte, desto früher würde er hoffentlich an die Werkbank dürfen. Als er den Hinteren Lech an der Schlossermauer überquerte, beherrschte er den Text aus dem Lehrbuch.
»Gut gelernt, Raymund!«, lobte ihn der Meister, als er bei seiner Rückkehr alles fehlerfrei aufsagen konnte.
Dem Obergsell, dem nichts zu entgehen schien und der von hinten neugierig zugehört hatte, gefiel es anscheinend überhaupt nicht, wenn jemand anderer als er vom Meister ein Lob bekam. »Mach dich nicht so wichtig, du Hundsfott aus dem Wald, du wirst auch noch auf die Welt kommen, dafür werde ich schon sorgen«, schnauzte er ihn im Vorbeigehen an.
Raymund schluckte. Er fand diese Bemerkung ziemlich unverschämt, wo er doch so stolz auf sich war. Einem Lehrling war allerdings jede Widerrede verboten.
»Der Meister hat ihm zwar das Prügeln der Lehrbuben verboten, aber er hält sich nicht immer dran. Du musst aufpassen, Raymund, vor allem, wenn er nach seinem freien Tag noch nicht ganz nüchtern ist und die Lehrbuben wie wild rumscheucht.« Remigius, einer der Schäfter, hatte die Szene beobachtet. Er gab ihm einige gute Ratschläge, wie er sich vor den Hieben des Obergsells rechtzeitig abducken solle.
Im Hause Benzenauer wurde mittags und abends gekocht. Um die Zwischenmahlzeiten mussten die Gesellen sich selbst kümmern und die schickten ihre Lehrlinge.
An einem Novembermorgen hatte Raymund gerade seinen Wagen vor der Werkstatt abgeladen, da wartete bereits der nächste Auftrag. Immer dieselben Fuhren, seit Wochen! Wenn das nicht bald aufhört mit diesem langweiligen Karrengeschiebe von der Oberstadt in die Unterstadt, raus in die Jakoberstadt und zurück ins Lechviertel! Immerhin kann ich den Jos jeden Abend fragen, was mich brennend interessiert.
»Jetzt kannst du gleich die Brotzeit holen, oben in der Stadtmetzg die Würste und drüben in der Bäckerei das Brot, verstanden? Aber beeil dich, Rotschopf, du hast beim Madringer viel Zeit gelassen, deine Trödelei werd ich dir austreiben«, nörgelte der Obergsell hinterher.
»Jawohl, Obergsell.« Er nickte betont untertänig und freute sich darüber, dass ihm der Spott über seine roten Haare überhaupt nichts mehr ausmachte. Und es kam ihm einer von Karls aufmunternden Sprüchen in den Sinn. Nur einfache Menschen beurteilen andere nach Äußerlichkeiten. Der gute Karl, Raymund lächelte nur. Von dir lasse ich mich nicht unterkriegen, Greisinger!
Im Lechviertel waren zwar viele Handwerksbetriebe in kurzer Reichweite angesiedelt, aber bis zur Stadtmetzg war es ein weiter Weg, sodass es einige Zeit dauerte, bis er den Rundgang beendet hatte.
Als Raymund den Gesellen, die es sich an ihrem Tisch gemütlich gemacht hatten und ungeduldig auf ihre Brotzeit warteten, den Korb auf den Tisch stellte, stand ein großer, stattlicher Mann mit einem riesigen Hut in der Werkstatt. So wie er aussah, musste er ein Patrizier oder ein Abgesandter eines mächtigen Fürsten oder gar Königs sein.
Der Benzenauer kümmerte sich persönlich um den hohen Gast und Raymund spitzte vom untersten Platz des Gesellentisches die Ohren.
»Wir haben seit einiger Zeit das Radschloss durch das Schnapphahnschloss ersetzt, Herr Castranova. Die grundsätzliche Änderung gegenüber dem Radschloss ist, dass jetzt der Hahn das aktive Element wird. Er wird von der Schlagfeder nach vorn geschleudert und trifft mit seinem Feuerstein auf einen Feuerstahl, der über die Pfanne geklappt ist.« Raymund entging nicht, dass der kluge Benzenauer die eigentliche Erfindung für sich behalten hatte.
Der hohe Gast schien sehr an den Neuerungen interessiert. »Um wie viel verkürzt sich denn die Ladezeit gegenüber herkömmlichen Hakenbüchsen 2 2 Gewehr mit langem Lauf, das aufgeständert werden musste.
?«, wollte er wissen. Endlich wurde es interessant. Raymund rückte ein Stück näher, um ja nichts zu überhören.
»Das Entscheidende ist nicht die Verkürzung der Ladezeit, sondern die Zuverlässigkeit der Zündung, die dem Schützen die Sicherheit gibt, dass die Kugel tatsächlich fliegt, wenn die Schlagfeder zuschlägt. Das Wild muss getroffen sein, bevor es das Geräusch wahrnehmen kann. Denn jede Fehlzündung bedeutet, dass das Tier aufgeschreckt davonläuft. Zudem ist der Waidmann nicht mehr, wie bisher, mit der ständig brennenden Lunte vom Wetter abhängig«, erklärte der alte Benzenauer.
»Der hohe Herr kommt vom Dogen in Venedig, hab ich mir sagen lassen; dort brauchen sie immer wieder die neuesten Waffen für die Besatzungen ihrer Handelsschiffe im Kampf gegen die Piraten«, erklärte der Obergsell den anderen am Tisch und grinste so breit, dass seine Zahnlücke sichtbar wurde. Er erntete anerkennende Blicke am Tisch, doch der Meister drehte sich mit warnendem Blick zu den Gesellen.
»Sei still, wenn der Meister spricht!« Der Schäfter Remigius war anscheinend der Einzige, der es wagte, dem Obergsell zu widersprechen.
Der Obergsell, das wurde Raymund von Tag zu Tag deutlicher, war der heimliche Herr im Hause. Selbst der Benzenauer kam um seine Meinung nicht herum, vor allem, wenn es um technische Dinge ging.
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