Er nutzte die Zeit, um sich einige Worte zurechtzulegen. Die Situation war günstig, vielleicht einmalig. Er musste das Mädchen auf seine Seite ziehen. Auch wenn es brutal war, sah er nur eine Möglichkeit, wie das ging. Und irgendwann würde Lena es sowieso erfahren.
»Ich habe Ihre Schwester gesehen«, sagte er.
Lena drehte den Kopf.
»Heute Morgen am Strand.«
Lena zuckte mit den Schultern.
»Helfen Sie mir hier raus. Dann sag ich Ihnen, was ich über sie weiß.«
»Quatsch«, erwiderte Lena und wirkte wütend. »Sie haben niemanden gesehen. Warum erzählen Sie so was? Ohne mich wären Sie schon verblutet. Und zum Dank erzählen Sie mir solchen Quatsch.«
Der Blutverlust. Das erklärte, warum er so schwach war. Die Verletzung in der Schulter allein konnte es nicht sein.
»Ich bin hier Ihre einzige Verbündete. Wissen Sie das?«
Er nickte. »Natürlich. Entschuldigen Sie … Was wollen Sie wissen? Ich sag Ihnen alles, was ich weiß.«
»Dann sagen Sie mir, was das mit dem Hotel soll.«
»Welches Hotel?«
»Sie behaupten, dass alle Hotels schon lange ausgebucht seien. Warum erzählen Sie so was?«
»Weil es wahr ist.«
»Was ist wahr?«
»Dass alle Hotels ausgebucht sind. Aber Anna braucht auch keines.«
»Ich versteh kein Wort.«
»Weil Anna tot ist.«
»Bullshit. Fangen Sie schon wieder mit Ihrem Quatsch an?«
»Sie ist von einer Klippe gestürzt.«
»Ist sie nicht.«
Lena drehte sich weg und wollte gehen.
»Ich lüge nicht«, versicherte Jan. »Da lag vorhin wirklich eine tote Frau am Strand.«
»Sie wollen mich austricksen.« Lena wollte dies mit Nachdruck sagen, doch sie hörte selbst, dass es wie eine Frage klang.
Jan durfte jetzt nicht nachlassen. »Diese beiden Männer, woher kennen Sie die? Sind das Freunde von Ihnen?«
Lena schüttelte den Kopf. »Ich … Wir kennen uns kaum. Sie kommen aus Hamburg. Ich nicht. Ich wohne in Uelzen.« Pause. »Anna hat uns bekannt gemacht. Anna studiert in Hamburg. Da hat sie die beiden kennengelernt.«
Jan blickte das Glas in seiner Hand an, sagte dann: »Sie dürfen denen nicht länger trauen. Vielleicht war es ein Unfall mit Anna. Ich weiß es nicht. Aber …«
»Hören Sie auf!« Am liebsten hätte Lena sich die Ohren zugehalten und wäre ohne weitere Worte aus der Sauna verschwunden. Doch das schaffte sie nicht.
»Was immer diese Männer jetzt vorhaben«, sagte Jan, »eines ist sicher: Sie dürfen ihnen nicht mehr trauen.«
Lenas Blick fixierte Jan.
»Wir sind jetzt beide so was wie Zeugen. Und so, wie ich diesen Armbrustschützen einschätze …«
»Dennis.«
»… will er keine Zeugen. Er will den ganzen Vorfall vertuschen.«
Lena verdrehte die Augen. »Es gab keinen Vorfall!«
»Er wird mich hier nicht wieder rauslassen. Jedenfalls nicht lebend. Und nur wir beide können ihn identifizieren.«
Lena schüttelte den Kopf.
»Und das heißt, dass er auch Sie loswerden muss.« Jan wartete mit dem Weitersprechen so lange, bis Lena ihn erneut ansah. »Hören Sie mir zu, Lena. Wenn die beiden morgen mit Ihnen auch dieses Spiel machen wollen, dann gehen Sie nicht mit. Denken Sie sich eine Ausrede aus. Verletzen Sie sich vorher am Fuß oder so. Vielleicht auf der Treppe. Oder besser noch, fahren Sie mit ihnen mit und springen Sie aus dem Auto, sobald Sie in einer etwas belebteren Gegend sind. Egal, wo. Laufen Sie bei einem Bäcker rein oder in ein anderes Geschäft. Und dann rufen Sie die Polizei. Denn wenn nicht … dann werden Sie das hier nicht überleben.«
Lena atmete tief durch, und Jan hoffte, dass er die junge Frau mit seinen Worten erreicht hatte. Doch dann merkte er, wie sich ihr Körper spannte und die Stimmung sich drehte. Schnell fügte Jan hinzu: »Es gibt Beweise. Gehen Sie auf die Seite vom Sylter Spion. Die finden Sie im Internet. Sylter Spion. Muss leicht zu finden sein. Er hat die tote Frau am Strand fotografiert.« Jan unterstützte seine Worte mit einem Nicken. »Er hat Anna fotografiert!«
Lena hörte, was dieser fremde Mann sagte, doch sie wollte es noch immer nicht glauben.
»Sehen Sie sich die Fotos an. Wenn es nicht Anna ist, was haben Sie zu verlieren? Aber wenn sie es ist …«
Die Pause zwischen seinen Worten dauerte länger als gewollt.
»… dann kommen Sie wieder und lassen mich hier raus.«
»Das ist so ein Bullshit. Echt jetzt!« Lena sah ihn nicht an. »Dennis hat gesagt, dass ich nicht mit Ihnen sprechen soll. Weil Sie lügen. Und das stimmt. Sie lügen die ganze Zeit.«
Wut funkelte in ihren Augen.
Dieser Mann saß halbnackt und zusammengesunken auf der Holzbank vor ihr. Der Verband um seinen Oberkörper und die Schulter war verrutscht, die Kompressen rot durchgeblutet. Doch sie konnte kein Mitleid für Jan empfinden. Im Gegenteil. Sie roch seinen Schweiß, und ihr wurde übel davon. Sie bereute, zu ihm gegangen zu sein.
»Warten Sie. Bitte.«
Lena drehte lediglich den Oberkörper, ohne sich ganz umzuwenden. »Was denn noch?«
»Ich brauche dringend einen Arzt. Können Sie mir einen rufen?«
»Nein«, sagte Lena. Die Tür wurde von außen geschlossen. Jan hörte, wie der Stuhl wieder unter den Griff geklemmt wurde.
»Lena!«, rief er durch die geschlossene Tür. »Was auch immer passiert, gehen Sie nicht mit den beiden an den Strand. Spielen Sie dieses Spiel nicht mit!«
Sie glaubte wohl, dass sie leise war. Sie glaubte wohl, er würde nicht mitbekommen, wie sie durch den Flur und zu diesem Typen in die Sauna schlich. Falsch gedacht. Auch das Krachen und Rumpeln im Badezimmer hatte er gehört. Dennis bekam alles mit. Er lag auf seinem Bett, lauschte dem Wind, lauschte den Geräuschen im Haus. Sein Zimmer lag im Halbdunkel. Es war genau wie früher. Auch als Kind hatte er oft auf seinem Bett gelegen und darauf gelauscht, was im Haus geschah.
Das war auch der Grund, weshalb er nicht sofort aufstand und Lena zur Rede stellte.
Was wolltest du von dem Typen? Hilfst du ihm etwa? Und so weiter. Und so weiter. Und so weiter. Erst gespielt freundlich, dann lauter werdend, schließlich schreiend, brüllend, wütend.
Er erinnerte sich, wie seine Eltern früher häufig stritten. Erst gedämpft, um den Jungen nicht zu ängstigen, dann schnell lauter werdend und alles um sich herum vergessend. Auch damals hatte Dennis alles mitbekommen, was im Haus passierte. Das viele Streiten. Die Wut. Die Verachtung in den Stimmen.
»Lasst ihr euch jetzt scheiden?«
»Wie kommst du denn darauf?«, war die Antwort der Mutter.
»Unsinn. Mach dir keine Sorgen!«, wehrte der Vater ab.
Ein paar Tage war Ruhe. Dann stritten sie wieder. Und wieder glaubten sie, er würde sie nicht hören. Doch das tat er. Selbst wenn er sich die Hände auf die Ohren presste oder den Kopf unter dem Kissen verbarg. Er bekam alles mit. Alles.
Wie konnte Lena glauben, er würde ihren Besuch bei dem Presseheini im Badezimmer nicht bemerken? Sie wusste doch, dass Dennis in der Villa war. Sie hatte gesehen, wie er vom Zielschießen mit der Armbrust zurückgekommen war. Sie musste sich doch denken, dass er in seinem Zimmer lag. War sie denn so dumm?
Oder hielt sie etwa ihn für dumm?
Sofort spürte er die Wut in sich aufsteigen.
Er wollte aufspringen, wollte in den Flur stürmen und sie zur Rede stellen. Ob sie dumm sei? Oder ob sie ihn für dumm halte?
Doch er wollte keinen Streit auf dem Flur. Denn die Worte kannte er schon. Sie hallten wie ein Echo aus vergangenen Tagen in ihm. Immer wieder. Immer wieder.
Sollte sie doch ihren Spaß mit dem Presseheini haben. Wie auch immer. Was sie tat, ging ihn nichts an. Es war ihm egal. Scheißegal. Sie war ihm schließlich auch scheißegal. Und der Presseheini auch. Sollte er doch verbluten. Dann wäre die Sache erledigt.
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