Charlotte folgte der Aufforderung, während Dana sich mit rundem Rücken neben ihr auf den Schreibtisch stützte und mit der Computermaus arbeitete. Trotz sehr langer Fingernägel gelang es ihr mühelos, mit der linken Hand über die Eingabetastatur zu tanzen. Wieder fiel Charlotte auf, wie gut diese Frau roch.
Als Dana den richtigen Artikel angeklickt hatte, ließ sie Charlotte zunächst den Text lesen. Darin regte sich Dana über den offen ausgelebten Sexismus des Videos auf und verurteilte diesen mit messerscharfen Worten. Gleichzeitig wusste sie, dass der Leser, durch den Artikel neugierig gemacht, gleich den Link anklicken und den Clip ansehen würde. So funktionierte die neue Rubrik eben. Danas Text war nicht das Ausschlaggebende. Wichtig waren die Filme.
Auch Charlotte folgte dem vorgesehenen Schema. Der Text war kurz und präzise. Sie brauchte nur eine Minute, um ihn zu lesen. Dann klickte sie den Link an. Das Video selbst dauerte rund sechs Minuten. Zwischendurch sagte Charlotte immer wieder »okay« oder »krass«. Danach blickte sie Dana an, die sich einen anderen Schreibtischstuhl herangezogen hatte.
»Und damit hat Jan sich beschäftigt?«
»Ja, genau. Guck dir mal die Klickzahlen des Films an. Der geht richtig ab. Und das hat Jan interessiert. Er wollte herausfinden, wer so was macht. Wie sie auf ihre Ideen kommen. Und dann wollte er wohl auch noch die Moralfrage stellen.«
»Und? Was ist dabei rausgekommen?«
»Keine Ahnung. Der Titel gibt ja nichts her. Bitches in der Mangel.«
Stimmt, dachte Charlotte. Das gibt nichts her. »Wieso überhaupt bitches?«, fragte sie halblaut. »Das ist doch nur eine bitch da, oder.«
Dana grinste. Dann sagte sie: »Ich glaube, er hat sich auch mit deinem Mario über die Sache unterhalten.« Da ihr Blick über die Schulter ging, war klar, dass sie Christian ansprach.
»Mein Mario?« Christian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was du meinst.«
Die Übelkeit war schlimm, der Durst noch schlimmer. Obwohl der Ofen in der Sauna nicht eingeschaltet war, war die Luft extrem trocken. Sein Zeitgefühl hatte Jan völlig verloren. Schon zu lange war er in dem kleinen Raum von der Außenwelt abgeschnitten. Nur wenig Licht fiel durch ein kleines Fenster in der Tür. Jan wusste zwar noch, wie er in die Sauna gekommen war, dennoch schien alles irreal. Ein Wahnsinn.
Der Schmerz in der Schulter erinnerte ihn daran, dass er nicht nur einen Albtraum gehabt hatte.
Anna tot.
Anna, die nicht Anna-Lena war.
Und er halbtot.
Jedenfalls angeschossen.
Ohne das Handtuch und den Druckverband wäre er verblutet. Also traf es halbtot doch ganz gut.
Er musste etwas unternehmen. Sonst ließe sich das halb morgen streichen. Dass jemand Hilfe holte, womöglich einen Arzt, davon ging Jan nicht aus. Hier lief etwas in die falsche Richtung; mit einer hohen Eigendynamik. Etwas, das sich nicht so leicht aufhalten ließ.
Keine Hilfe in Sicht. Und niemand wusste, wo er war. In der Redaktion nicht. Und auf der Insel auch nicht. Weder Martens noch Eggestein. Hätte er dem Polizisten gesagt, wo er hin wollte … Aber das hatte er nicht.
Der Taxifahrer, der ihn angerufen hatte, wusste etwas. Aber welchen Grund sollte er haben, nach Jan zu suchen. Na gut, wenigstens eine kleine Chance bestand.
Aber darauf konnte Jan sich nicht verlassen. Er musste selbst etwas zu seiner Rettung unternehmen. Und zwar jetzt.
Nicht in zehn Minuten. Nicht in fünf. Jetzt.
Sofort schoss der Schmerz in seine Schulter. Dabei hatte er nur die Beine bewegt.
Ignorieren. Kurze Pause. Minipause. Und weiter.
Die Beine runter von der Holzbank. Dann vorwärts bis zur Tür.
Jan wusste nicht, ob er die Schritte zur Tür wirklich machte, oder sie sich nur vorstellte. Doch dann roch er das Nadelholz der Täfelung, gegen die er sein Gesicht drückt.
Mit der unverletzten Hand fasste er nach dem Türgriff. Er war ebenfalls aus Holz. Eine Klinke gab es nicht. Die Tür sollte sich nicht verriegeln lassen. Trotzdem ließ sie sich nicht öffnen.
Etwas musste von außen vor die Tür gestellt worden sein.
Weil Jan nicht genug Kraft im Arm hatte, drehte er sich um und trat, einem ausschlagenden Pferd gleich, mit der Fußsohle gegen die Tür.
Der Krach interessierte ihn nicht. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen.
Immer wieder trat er zu. Immer wieder.
Pause.
Hatte sich was getan?
Er rüttelte mit der Hand an der Tür.
Wieder umdrehen. Wieder zutreten.
An der Tür rütteln.
Und endlich passierte etwas.
Plötzlich gab die Tür nach, schwang nach außen, traf irgendetwas am Boden und blieb halb offen stehen.
Jan war so überrascht, dass er sich nicht mehr rührte und einfach nur auf die Fliesen jenseits der Tür starrte. Sein Atem ging stoßweise.
Ein Stuhl lag neben der Saunatür. Dennis musste ihn hergeschleppt haben. Um keine Geräusche im Flur oder auf den Badezimmerfliesen zu machen, hatte Lena ihre Schuhe ausgezogen. Sie war kurz oben gewesen, um eine Packung Schmerztabletten aus ihrem Zimmer zu holen. Falls Dennis noch einmal auftauchen sollte, hatte sie so wenigstens eine Ausrede parat. In Wirklichkeit wollte sie jedoch etwas anderes von dem Mann in der Sauna. Sie musste mit ihm über Anna reden. Ob Dennis das wollte oder nicht.
Fick dich, Dennis.
Den Krach aus dem Bad hatte sie schon im Flur gehört. Der umgekippte Stuhl verriet, wodurch er entstanden war.
Vorsichtig spähte Lena in die Ecke hinter der Badezimmertür. Sie war darauf gefasst, dass der Kerl aus der Sauna dort auf sie lauerte.
Doch da war niemand.
Dann hörte sie den schweren Atem.
Das Geräusch kam aus der Sauna.
Er hatte die Tür also aufbekommen, war aber noch nicht raus aus dem kleinen Raum.
Jan merkte, dass sich ein Schatten im Badezimmer bewegte. Er war nicht mehr allein. Eine Frauengestalt kam auf ihn zu. Anna-Lena. Nein, nur Anna. Nein, Lena.
Die Schmerzen in der Schulter behinderten Jan beim Denken. Und der Durst.
Jan lehnte noch immer an der Holztäfelung. Er merkte, wie ihn jemand anfasste und zurück zur Saunabank führte. Er musste sich wehren. Er musste die Frau zur Seite stoßen und die Flucht ergreifen. So eine Chance kam so schnell bestimmt nicht wieder. Er war zwei Köpfe größer als sie und wog fast das Doppelte. Er sollte doch leichtes Spiel mit ihr haben.
Ohne es zu wollen, plumpste er auf die Saunabank, als die Frau ihn in die entsprechende Richtung drückte.
Kurz schloss er die Augen. Nur ein paar Sekunden. Als er sie wieder öffnete, sah er Lena auf sich zukommen. Sie musste noch einmal im Badezimmer gewesen sein.
Die junge Frau trug ein langes T-Shirt und enganliegende Leggings. Ihre Füße waren nackt. In der Hand hielt sie ein Glas Wasser.
Die Kühle vom Glas war fast noch besser als das Trinken selbst. Sobald Jan das Glas an den Lippen hatte, schluckte er alles mit wenigen langen Zügen hinunter. Ein Hustenanfall war der Preis für seine Gier.
»Ich hole noch eines«, sagte Lena und verschwand erneut. Sofort hatte Jan Sorge, die Tür würde wieder geschlossen werden und er allein in der Kammer hocken bleiben. Stattdessen hörte er das Rauschen eines Wasserhahns. Dann kam Lena zurück in die Sauna. »Nicht gleich wieder alles austrinken«, mahnte sie. »Ich habe ein paar Schmerztabletten für Sie.«
Jan ließ sich zwei Tabletten auf die Hand legen, nachdem er das Glas auf die zweite Ebene der Sitzbank gestellt hatte. »Danke«, sagte er und starrte die Tabletten an. Sie würden ihn noch träger machen, das stand fest. Andererseits würden sie hoffentlich den Schmerz lindern. Und mit weniger Schmerzen würde er besser denken können. Jan führte die Hand zum Mund. Danach griff er wieder zum Wasser. Diesmal trank er langsamer.
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