Sie legte das Messer zur Seite und beschloss, nach ihm zu sehen. Nach Jan Fischer.
Abgesehen davon, dass Dennis auf ihn geschossen hatte, war er auch sonst ziemlich fies zu Jan. Das mit dem Handy war nicht okay. Wieso musste er die Nachrichten von dieser Charlotte vorlesen und auch noch in der Fotogalerie rumstöbern?
Auf dem Flur sah Lena zu Haukes Schlafzimmer. Der lag bestimmt noch immer im Alkoholkoma. Und Dennis?
Dennis wollte nicht, dass sie zu Jan Fischer ging. Er hatte es ihr unmissverständlich verboten. Ins untere Badezimmer ging ab sofort niemand außer ihm. Sie erinnerte sich an die Worte, als sie schon vor dem Bad stand. Dann hörte sie Geräusche aus dem Vorflur. Blitzschnell zog sie die Hand von der Türklinke zurück.
Der Wind schlug die Haustür krachend gegen die Wand. Dennis kam polternd ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief. Lena saß mit angezogenen Beinen auf dem Sofa und aß Apfelspalten. Er sah nur kurz in ihre Richtung und warf die Armbrust ziemlich unsanft auf den Esstisch.
»Habe einen Pfeil verloren. Verdammter Wind. Verdammte Dunkelheit. Morgen musst du mir suchen helfen. Am besten bestellt Hauke gleich noch welche nach. Ich glaube, es gibt Zwölferpacks. Aber bis dahin müssen wir sparsam mit den Dingern umgehen. Hast du gehört, Lena? Du hilfst mir morgen beim Suchen.«
»Ja doch.«
»Dann antworte doch gleich!«
»Bist du meine Mutter?«
»Was?« Dennis erweckte kurz den Eindruck, als würde er über die Bemerkung wütend werden, stattdessen lachte er auf. »Nee, bin ich nicht. Ganz bestimmt nicht.«
Der Raum wurde nur vom bläulichen Licht des Fernsehers beleuchtet. Eine Weile blieb Dennis regungslos beim Esstisch stehen. Irgendwann drehte Lena den Kopf, um zu sehen, ob er überhaupt noch im Raum war.
»Was macht Hauke?«, fragte er in diesem Moment.
»Keine Ahnung.«
»Und unser Gast?«
»Weiß ich nicht.«
»Warst du bei ihm?«
»Nein.«
»Stimmt das?«
Lena sagte nichts dazu.
»Ob das stimmt?«
Zur Antwort erhielt Dennis ein in die Länge gezogenes, trotziges »Jaaaa …«
»Ich mache keinen Spaß, Lena.« Danach etwas freundlicher: »Weißt du auch, warum? Weil er lügt.«
Lena blickte ihn fragend an.
»Lügenpresse, Lena. Die denken sich ihre eigenen Geschichten aus.«
»Das ist doch Quatsch, Dennis.«
»Mach einfach, was ich dir sage, Lena.«
»Wir sollten einen Arzt holen.«
»Was?«
»Die Wunde kann sich entzünden. Vielleicht stirbt er über Nacht.«
»Der stirbt nicht.«
»Woher willst du das wissen?«
»Wir machen erst den Dreh mit dir. Und dann verschwinden wir. Und erst dann, klar, erst dann lassen wir ihn laufen.«
»Du willst ihn doch gar nicht laufen lassen.«
Dennis zuckte mit den Schultern. »Klar lass ich ihn laufen.«
»Der Typ ist ein Schnüffler. Ein Journalist. Hast du selbst gesagt. Der findet alles raus. Egal, was es ist. Auch unsere Nachnamen. Und davor hast du Angst.«
»Halt die Fresse, Lena.«
»Wie bitte?«
»Ja, halt die Fresse. Ich habe keine Angst. Schon gar nicht vor dem. Erzähl also nicht so einen Scheiß. Wieso glaubst du eigentlich, dass er so toll ist? Hast du was über ihn rausgefunden? Warst du etwa im Internet?«
»Ich war nicht im Internet.«
»Kein Internet während des Spiels, Lena.«
»Ich weiß.«
Die Regel war Quatsch. Aber Dennis wollte es so. Dennis machte hier die Regeln.
»Ich will das nicht«, plusterte er sich auf. »Guck Fernsehen, wenn du dich langweilst.«
»Mach ich doch.«
»Lena, willst du mich ärgern?«
»Nein.«
»Dann halte dich an die Regeln.«
Sein ausgestreckter Zeigefinger drohte ihr. Doch Lena ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Als er noch immer wütend zur Tür stapfte, sagte sie leise: »Dennis …«
»Was?« Er drehte sich um.
»Ruf einen Arzt.«
»Fick dich, Lena. Fick dich.«
Die Tür krachte in den Rahmen.
Wieder allein machte Lena den Fernseher aus. Lange hörte sie dem Wind zu, der immer mehr den Charakter eines beginnenden Sturms bekam, und dachte: Fick dich selbst, Dennis.
Dana gehörte zu den neuen Gesichtern in der Redaktion. Sie war zu Christians Leuten gestoßen, als Charlotte bereits in Spanien war. Mit roten Wangen nahm sie den Kaffeebecher an, den ihr Christian entgegenstreckte. Offensichtlich war sie genauso durchpustet worden wie er und Charlotte. Jedenfalls war die Kirchentür hinter ihr so laut zugefallen, dass beide hofften, der Sturm wäre schuld daran.
Die junge Frau hatte kupferrote Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Sie trug Lipgloss passend zur Haarfarbe. Auch die Augen waren auffällig stark geschminkt. Eine enge Hose steckte in kniehohen Stiefeln. Darüber trug Dana einen abgesteppten Mantel. Ein Hauch von Parfüm umwehte die Studentin. Der Geruch gefiel Charlotte.
»Christian, ich habe es ziemlich eilig, das weißt du doch. Ich muss ins Theater!«
Der junge Chefredakteur stellte die beiden Frauen einander vor. Um das Eis zu brechen, fragte Charlotte, was denn im Theater gespielt würde.
Irritiert zog Dana kurz die Augenbrauen zusammen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Völlig egal. Ich mache die Garderobe. Von irgendwas muss man ja leben.«
Die Spitze ging in Christians Richtung. Der verstand den Hinweis und winkte ab.
»Warum bin ich also hier?«, wollte Dana wissen.
Von Christian wusste Charlotte, dass Dana so gut wie allein für eine fast 50-prozentige Steigerung der Klickzahlen des Lauffeuers im vergangenen Monat verantwortlich war, weil sie gleich nach ihrem Einstieg in die Redaktion eine neue Rubrik eingeführt hatte.
Im Prinzip war es eine Unterabteilung des Boulevards. Über den Titel war man sich nicht gleich ganz einig geworden. Sollte er unbelievable oder besser unglaublich heißen? Jedenfalls durchforstete Dana das Internet seitdem nach spektakulären Videoclips, die sie auf Lauffeuer genüsslich kommentierte.
Über einen Link ließ sich das Filmchen dann direkt ansehen. Heraus kamen Beiträge wie: Unglaublich … süß. Unglaublich … gefährlich. Oder: Unglaublich … fies.
Es brauchte nur eine Woche, bis die rapide steigenden Besucherzahlen des Lauffeuers anzeigten, wie gut die neue Rubrik bei den Lesern ankam. Ein entsprechend starker Zuspruch ließ sich in den Netzwerken der sozialen Medien registrieren. Die Artikel zu unglaublich … wurden 100-fach geteilt und mit Daumen nach oben oder wütenden Emojis versehen. Ein Umstand, der sowohl den Werbekunden als auch Christian sehr gut gefiel.
»Jan war ziemlich interessiert an der Sache«, sagte Christian nun. »Immer wieder habe ich gesehen, wie er Dana über die Schulter gesehen und den Kopf geschüttelt hat. Stimmt’s nicht, Dana?«
»Ja, er ist ein schlauer Kopf, der Jan.«
Charlotte wartete automatisch darauf, dass Dana bei einem der Worte stolperte. Doch ihr Deutsch war trotz eines deutlichen slawischen Akzents fehlerlos.
»Besonders ein Artikel hat es ihm angetan. Ich habe ihn unglaublich … gemein genannt.«
»Kann ich den mal sehen?«
Dana stellte den Kaffeebecher auf einem Schreibtisch ab und gab stehend, über die Tastatur gebeugt, ein Passwort in den Computer ein. Während sie im System angemeldet wurde, zog sie den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Für eine Garderobenfrau war sie ziemlich schick gekleidet.
»Ein Mädchen wird über ein großes Gelände gehetzt«, sagte sie. »Sie hat so gut wie nichts an. Und dann wird von irgendwo mit Farbpatronen auf sie geschossen.«
»Ein Mädchen«, wiederholte Charlotte. »Wie alt?«
»Na, kein richtiges Mädchen mehr. So alt wie ich. Asiatischer Typ. Geschminkt, als trage sie Kriegsbemalung. Männern gefällt so was. Am besten zeige ich es dir. Setz dich.«
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