Danach waren gemeinsame Aktivitäten seltener geworden. Paul gelang es, einen Ausbildungsplatz zum Landschaftsgärtner zu ergattern. Fred hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Man traf sich manchmal freitagnachts in der Kneipe. Paul berichtete dann immer von seinen diversen weiblichen Internetbekanntschaften. Keiner dieser Flirts hielt lange. Früher oder später kamen die Frauen dahinter, mit was für einem Chaoten sie ausgegangen waren, und beendeten die Beziehung. Und es dauerte ebenfalls nicht allzu lange, bis Pauls Arbeitgeber herausfand, dass der neue Azubi statt über einen grünen Daumen leider nur über zwei linke Hände verfügte, und sich deshalb nach Beendigung der Lehrzeit von ihm trennte.
Die Treffen in der Kneipe nahmen daraufhin zu und Alfred bezog Paul wieder öfter in seine, zum Großteil kriminellen, Machenschaften mit ein. Der war willig, aber nach wie vor geschwätzig. Das brachte Fred schließlich einen sechsmonatigen Gefängnisaufenthalt, aber auch neue Kontakte ein. Und einer dieser neuen Bekannten hatte ihm den Tipp mit dem Juwelier am Schlossplatz gegeben. Der fertigte nämlich in seiner Werkstatt ausgesuchte Einzelstücke an und das Material dazu wurde jeweils montagnachmittags geliefert. Montags war der Inhaber außerdem allein im Laden und der Schlossplatz kaum besucht, da das namensgebende Kurmainzische Schloss samt des darin befindlichen Tauberfränkischen Landschaftsmuseums an diesem Tag für Besucher geschlossen war. Ebenso wie der anliegende Türmersturm, ein weiterer Bestandteil der ehemaligen Wasserburg.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, plapperte Paul los: »Schade, dass heute Ruhetag ist. Warst du schon mal auf dem Turm? Man soll da eine ganz fantastische Sicht über die Stadt haben.«
Ging es noch? Fred glaubte, nicht recht zu hören. Sie planten gerade einen Überfall und sein Komplize ließ sich über Sehenswürdigkeiten aus. Hatte der den Schuss noch gehört? Apropos. Es war wohl besser, diesem Unglücksvogel keine geladene Waffe in die Hand zu geben. Schnell entfernte er die Magazine aus den beiden Walther P5. »Da vorne kannst du anhalten«, unterbrach er dann die Lobeshymnen seines Begleiters auf den im 13. Jahrhundert errichteten Wehrturm.
»28 Meter ist er hoch.« Schob Paul ein letztes Detail nach und unterstrich seine Aussage, indem er den Arm entsprechend anhob. Der Wagen machte einen weiteren Schlenker und holperte mit dem rechten Vorderreifen über den Bordstein.
Alfred sah auf die Munition in seiner Hand, bevor er sie fest zur Faust schloss. »Da vorne hältst du an.«
Paul hätte sowieso keine andere Möglichkeit gehabt, wenn er nicht zwischen zwei Pfeilern hindurch in die beginnende Fußgängerzone fahren wollte. Bei ihm konnte man da allerdings nicht sicher sein.
Während Fred noch die Patronen verstaute und dabei zumindest versuchte, seinem Kumpel die geplante Vorgehensweise ins Gedächtnis zu brennen, staffierte der sich schon mit Schiebermütze, Sonnenbrille und einem albernen künstlichen Schnurrbart, die er zuvor im Handschuhfach deponiert hatte, aus. Fred legte ebenfalls Brille und Mütze an. Als sie auf diese Weise kostümiert aus dem Wagen gestiegen waren, baute sich Paul neben ihm auf und salutierte. Die Handfeuerwaffe hatte er sich vorne in den Hosenbund geschoben. Alfred verkniff sich einen Kommentar über die Gefahr, die diese Art der Aufbewahrung mit sich brachte, pries insgeheim seine Weitsichtigkeit, die Munition entfernt zu haben, und sah auf die Uhr.
17.45 Uhr. Es wurde Zeit.
*
Dreiviertel sechs. Irgendwo schlug eine Kirchturmuhr. Ekkehard Klotz beschleunigte seinen Schritt und blickte unwillkürlich auf sein linkes Handgelenk. Aber da war nur ein Streifen etwas blasserer Haut statt seiner geliebten Stimmgabeluhr, die er sonst nie ablegte. Vor sieben Tagen war sie plötzlich stehen geblieben und der Juwelier am Schlossplatz, zu dem er sie umgehend gebracht hatte, hatte das ungewöhnliche Modell mit einer Mischung aus Faszination und Ratlosigkeit betrachtet. »Die muss ich einschicken«, hatte er ihm dann beschieden und hinzugefügt: »Das kann ein paar Tage dauern.« Was war ihm also anderes übrig geblieben, als seinen Augapfel den Händen der Experten zu überlassen?
Seither fühlte er sich irgendwie nackt. Immer wieder wanderte sein Blick zu seinem verwaisten Handgelenk. Er brachte es nicht übers Herz, sein Schätzchen für die Dauer der Reparatur durch ein billiges digitales Modell zu ersetzen.
Als ihn am heutigen Nachmittag endlich der erlösende Anruf aus dem Juwelierladen erreicht hatte, hatte er sich gar nicht schnell genug auf den Weg machen können. Warum rief der erst um kurz vor fünf am Nachmittag an? Wenn die Uhr heute gekommen war, musste sie doch bereits am Morgen angeliefert worden sein, überlegte Ekkehard ärgerlich. Solche Zustellungen kamen doch nicht kurz vor Feierabend. Je länger er darüber nachdachte, desto wütender wurde er. Wahrscheinlich war seine Uhr, wie ursprünglich avisiert, bereits am vergangenen Freitag angekommen und dieser Kretin von einem Juwelier hatte schlicht versäumt, ihn über deren Eintreffen zu informieren. Na, der konnte was erleben! Ohne einen Blick für die schöne Fachwerkfassade des einstigen Kurmainzischen Schlosses zu erübrigen, stürmte er auf die Eingangstür des Juweliers »Mattenzwirn« zu.
Mattenzwirn hat kein Hirn!, dachte er an die Schmähsprüche aus Jugendtagen, mit denen er und seine Freunde den Sohn des ortsansässigen Geschäftsmannes bedacht hatten. Seine und die Clique um Matthias Mattenzwirn waren damals erbitterte Feinde gewesen. Natürlich war das lange her und sie waren schließlich beide erwachsen und vernünftig, wie man meinen konnte. Und immerhin war Ekkehard mit seiner defekten Uhr ja auch zu dem ehemaligen Schulkollegen gegangen. Nun ja, hauptsächlich deshalb, weil sein Opa – Gott hab ihn selig – das gute Stück damals in dem Laden am Schlossplatz erworben hatte. Beim alten Mattenzwirn, dem Großvater von Matthias und einem Uhrmacher-Spezialisten. Dessen Ruf war weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen. Sein Enkel hatte scheinbar nichts von der Fertigkeit seines Urahnen geerbt. Musste seine kaputte Uhr an irgendwelche Spezialisten weiterschicken. Kein Wunder, dass sein Geschäft, wie man munkelte, vor der Pleite stand, dachte Ekkehard gehässig.
Das war das letzte Mal, dass er diesen Laden betreten würde, nahm er sich vor, als er vor dessen Eingangstür stand, und ahnte nicht, in welch fataler Weise sich dieser Vorsatz erfüllen würde.
Zunächst ärgerte er sich über die respektlose Begrüßung des »hirnlosen Mattenzwirns«.
»Ekke, die Zecke!«
Der Laden war leer, aber trotzdem war die Anrede einem Kunden gegenüber nicht angemessen.
Was der konnte, konnte Ekkehard schon lange: »Matze, du Fratze!«, konterte er.
»Na, wer gleich eine Fratze zieht, werden wir ja sehen.« Matthias lachte höhnisch und wedelte mit einer Plastiktüte vor seiner Nase herum. »Die Experten konnten deinem Schätzchen leider nicht mehr helfen.«
Ekkehard erkannte seine geliebte Uhr in dem durchsichtigen Beutel. Er sah ein bisschen so aus wie diese Tüten, in denen die Fernsehkommissare im »Tatort« ihre Beweisstücke sicherten. Er wollte danach greifen, aber der Juwelier entzog ihm das begehrte Objekt. »Erst bekomme ich 97,80 von dir.«
»Spinnst du?«
»Na, na, wie redest du denn mit mir? Das ist nicht klug. Ganz und gar nicht klug!« Er fuchtelte weiter mit der Tüte vor ihm herum.
Plötzlich war Ekkehard wieder 16 Jahre alt und betrachtete wütend die Kratzer in Form eines männlichen Geschlechtsorgans am Tank seines nagelneuen Mopeds. Er hatte sofort seinen Erzfeind, Matthias Mattenzwirn, in Verdacht gehabt und daraufhin kurzen Prozess gemacht: Im Sportunterricht hatte er die protzige Uhr des Juwelierssohns geklaut, mit deren diversen Spezialfunktionen jener noch am Morgen angegeben hatte.
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