Fragen nach dem transmortalen Dasein selbst soll Konfuzius dagegen ausgewichen sein; als er schwer erkrankte und ihn sein Schüler Dsï Lu fragte, ob er für ihn beten lassen dürfe zu den „Götter[n] oben“ und den „Erdgeister[n]“ unten, reagierte der Meister recht barsch, er habe „lange schon gebetet“.585 Schüler und Familie sorgten indessen für sein Andenken in Qufu, wo Konfuzius geboren und begraben worden war; entscheidend für den Konfuzius-Kult wurde schließlich die Zuwendung der Kaiser.586 Der Gründer der Han-Dynastie, Han Gaozu (reg. 206–195 v. u. Z.), war der erste, der am Konfuziustempel persönlich opferte; die folgenden Herrscher statteten die ‚Kongs‘, Nachkommen des Konfuzius, mit erblichen Ehren und Ländereien aus und brachten wiederholt Spenden zur Renovierung des Tempels auf. In der mittleren Han-Zeit verfügten die Kongs bereits über 3.800 Haushalte, die ihnen für die Opfer an Konfuzius in ihrem Tempel übertragen worden waren.587 Später spendete Kaiser Ming Taizu im Jahr 1368 allein 98.400 Morgen Land. Natürlich dienten die Gütergaben, die durch Steuerbefreiungen ergänzt wurden, auch der Versorgung der Kong-Familie selbst.588 Zweifellos handelte es sich bei diesen materiellen Ausstattungen des Konfuziustempels von Qufu um Stiftungen – Stiftungen freilich, die ‚nur‘ einem diesseitigen Gedenken dienen und die lebenden Angehörigen des Beistands ihres Ahnen versichern sollten. Beachtenswert ist, dass sich der Kult des Konfuzius, zu dem auch die Verehrung seiner Schüler und später weiterer Gelehrter trat, nicht auf einen einzigen Ort beschränkte. Bereits unter Kaiser T’ai-tsung (627–649 u. Z.) war der Befehl ergangen, in allen Provinz- und Distriktschulen Konfuziustempel zu errichten;589 die Maßnahme stand im Zusammenhang mit dem Ausbau des Prüfungssystems für Beamte. In der Forschung hat man deshalb davon gesprochen, Konfuzius sei „zu einer Art Gottheit der Staatsverwaltung“ erhoben worden, was „natürlich etwas ganz anderes (sei) als der buddhistische Appell an das Erlösungsstreben jedes einzelnen Individuums“590.
In der konfuzianischen Ethik rangierte die Sorge um die eigene Familie vor den Pflichten gegenüber dem Staat;591 wo wie im Konfuziuskult die Ahnenverehrung zur Staatsangelegenheit, also zur Aufgabe Dritter, wurde, konnten Memorialstiftungen ihren Platz finden. Eine Entwicklung wie im Hellenismus oder republikanischen Rom, wo nachlassende Familiensorge gegenüber den Verstorbenen zur Ausbildung von Totenstiftungen geführt haben soll,592 ist in China wohl undenkbar gewesen. Allerdings wird den Konfuzianern von der modernen Wissenschaft durchaus ein eher pragmatisches Verhältnis zum Ahnenkult bescheinigt. Hans von Ess hat darauf hingewiesen, dass die Intensität der Ahnenverehrung vom sozialen Rang oder von der Zeitstellung beziehungsweise dem Verwandtschaftsgrad abhing. Nach einem normativen Text des chinesischen Altertums habe der „Himmelssohn“, also der Zentralherrscher, sieben Ahnen zu verehren gehabt, ein Lehensfürst fünf, ein Würdenträger noch drei, während ein einfacher Beamter nur zum Gedenken seines Vaters verpflichtet war. Spätere Konfuzianer haben auch dem einfachen Mann die Verehrung von vier Vorfahren zugestanden. Die Tafeln mit den Namen anderer Vorfahren seien im Laufe der Zeit aus den Ahnentempeln und Ahnennischen der Privathäuser entfernt worden „und es gibt wenig Hinweise darauf, dass man sich die Welt oder gar den Himmel als von unsichtbaren Ahnen bevölkertes Pantheon vorgestellt hätte“.593
Die Signatur der Achsenzeit, die sich bei ‚Konfuzius‘ trotz Festhaltens an der Ahnenverehrung an der entschiedenen Hinwendung zur innerweltlichen Ethik festmachen lässt, prägte auch den Daoismus mit seinen grundlegenden Schriften.594 Das eine Werk, das ‚Daodejing‘, stammte zwar sicher nicht von einem einzigen Autor, dem angeblichen Zeitgenossen des Konfuzius, Laotse, geht aber mit seinen ältesten Schichten wohl ins 4. vorchristliche Jahrhundert zurück und wurde in seiner heutigen Form vor allem im frühen 3. Jahrhundert u. Z. verfasst.595 „Der wichtigste Beitrag des Daodejing zum Daoismus und zum chinesischen Denken überhaupt liegt in der neuen Bedeutung, die dem Wort ‚dao‘ gegeben wurde. Gewöhnlich und dem verbreiteten Verständnis nach bedeutete es ‚Weg‘, ‚Methode‘ oder ‚Lebensregel‘, aber im Daodejing nimmt ‚dao‘ zum ersten Mal die Bedeutung der ‚Letzten Wahrheit‘ an, des ‚Einen und Transzendenten‘, des ‚Unsichtbaren‘ ( yi ), ‚Unhörbaren‘ ( xi ) und ‚Unerfahrbaren‘ ( wei ), des ‚Nicht zum Gebrauch Bestimmten‘ und ‚Nicht-Benennbaren‘. Da das Dao jenseits aller Unterscheidung und allen Urteilens liegt, kann es nicht ‚gesagt‘ oder in bestimmter Weise praktiziert werden. Man kann von ihm keinen Gebrauch machen, da es ‚weder dies ist noch jenes‘. Trotz seiner negativen Bestimmung wird dem Dao wegen seiner Kraft zugeschrieben, es sei die Quelle allen Lebens, die ‚Mutter‘, das ‚Durchdringende‘, ‚reich an Verheißungen‘ und der einzige Bezugspunkt von Gewissheit. In diesem Sinne ist es ‚sowohl dieses als auch jenes‘. Alles, was gesagt werden kann und einen Namen hat, ist vergänglich und gehört der Welt an; nur das Dao hat keinen Namen und ist ewig. ‚Benennen‘ und Sprache werden trotzdem als die ‚Mutter‘ aller Dinge bezeichnet.“596 Alle Schulen des Daoismus haben an dieser Grundbedeutung des Dao festgehalten. „Das Dao ist die Quelle der Welt, der Punkt, zu dem alles zurückfließt, der ‚Schatz der Welt‘, dasjenige, durch das Himmel und Erde bestehen.“ Das ‚Daodejing‘ will zeigen, dass die Sprache die Wirklichkeit der Dinge nicht erfassen kann, aber indem es demonstriert, dass jede Annahme ihre eigene Verneinung impliziert, sucht es die beiden zu vereinen wie die Medaille mit ihren beiden Seiten. In kosmogonischer Sicht geht es um die „Rückkehr“ (* fan ) zur ursprünglichen Ungeteiltheit, so wie ein Kleinkind mit seiner Mutter eine Einheit gebildet hat. Rückkehr zum Anfang bedeutet zugleich Rückkehr zur ordentlichen Welt.
Die Erfahrung der zerbrochenen Einheit, also die Erfahrung der Transzendenz, ist der – negative – Ausgangspunkt für die Lehre des ‚Daodejing‘, die den Daoismus bestimmt hat. Das Werk wendet sich aber entschieden gegen die Lösung der Konfuzianer, die Spaltung durch Ethik und Rechtlichkeit zu überwinden: „Mit dem Niedergang des großen Dao entstanden Menschlichkeit und Rechtlichkeit; sobald es Klugheit gab, entstand die große Heuchelei; als die Familienbeziehungen nicht mehr harmonisch waren, entstanden Kindespietät und elterliche Fürsorge; als die Staaten ins Chaos stürzten, entstanden loyale Minister.“597 Moralische Werte mussten erst geschaffen werden, als die natürliche Güte, die aus der Harmonie mit dem Dao hervorging, verloren war. Der weise Herrscher, an den sich das ‚Daodejing‘ besonders wendet, solle deshalb so regieren, dass das Gemeinwesen zum Dao geführt wird: „Beende Weisheit und verwerfe Klugheit – das Volk wird hundertfachen Nutzen daraus ziehen. Beende Menschlichkeit und verwerfe Rechtlichkeit – das Volk wird zu Kindespietät und elterlicher Fürsorge zurückkehren. Beende Geschicklichkeit und verwerfe Profit – und es wird keine Räuber und Diebe mehr geben.“598
Das zweite wichtige Grundlagenwerk des Daoismus, das ‚Zhuangzi‘, kann einer historischen Person zugeschrieben werden, dem Zhuang Zhou, der 290 v. u. Z. gestorben ist; allerdings gehen nur die ersten Teile auf ihn selbst als Autor zurück, andere stammen von seinen Schülern und späteren Verfassern.599 Im Unterschied zum ‚Daodejing‘ wendet sich das Buch von „Meister Zhuang“ nicht an den Herrscher, sondern mit Ratschlägen und Geschichten zur rechten Lebensgestaltung an jeden Menschen. Das Dao wird erneut als nicht artikulier- und analysierbar dargestellt. Es geht nicht darum, es zu verstehen, sondern nur, es zu erleben. Ziel muss es sein, das Bewusstsein von allem erlernten Wissen zu befreien und die Distanz zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben. In tiefer Versenkung soll das Individuum sich selbst verlieren, um den kosmischen Strom des Dao als eigentliche Wirklichkeit zu erleben. Im ‚Zhuangzi‘ wird dieser erstrebte Zustand exemplarisch beschrieben: „Ich zerschmettere meine Glieder und meinen Leib, vertreibe meine Wahrnehmung und meinen Verstand, werfe die Form fort, entrümpele mich von jedem Verstehen und mache mich selbst eins mit der Großen Durchfahrt.“600 Das vollkommene Selbstvergessen bedeutet, in das Nichtsein des Universums einzutauchen. In diesem Sinne hat ein Kommentator des ‚Zhuangzi‘ im 3. nachchristlichen Jahrhundert über das Vergessen des Selbst geschrieben: „Zuerst vergisst man alle äußeren Dinge, dann vergisst man auch, was diese Dinge hervorgebracht hat. Im Inneren ist man sich nicht bewusst, dass es ein Selbst gibt, im Äußeren weiß man überhaupt nicht, dass es Himmel und Erde gibt. So wird man vollkommen leer und kann sich mit allen Wandlungen vereinen, ohne etwas nicht durchdrungen zu haben.“601 Der individuelle Tod selbst ist in dieser Perspektive nichts als Teil des ewigen und beständigen Wandels des Dao. Konsequent dem Gedanken des Wandels verpflichtet, propagiert das ‚Zhuangzi‘ aber auch die Auffassung, dass das ‚Goldene Zeitalter‘ vergangen ist, also Rückschau nicht lohne, sondern der Einzelne das Leben genießen solle, so lange, wie es dauere. Das Werk konnte durchaus als Einweisung in den Hedonismus gelesen werden, denn universale Harmonie soll am ehesten erreichbar sein, wenn jedermann seine Wünsche erfülle, da alle Wünsche und Sehnsüchte organischer Teil der Natur und des Dao seien. Jede Art und Weise, emotionale und physische Wünsche zu unterdrücken, bedeute hingegen einen Bruch mit der Harmonie der Natur und sei deshalb zu vermeiden.
Читать дальше