Reinhard Warnke
Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte
Band 1: Eine Jugend in Deutschland
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Reinhard Warnke Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte Band 1: Eine Jugend in Deutschland Dieses ebook wurde erstellt bei
Vorwort
1 Der Urknall
2 Das Ende des Schreckens
3 Trizonesien
4 Die Auferstehung
5 Der Fußball rollt wieder
6 Nachkriegsdeutschland
7 Das Wunder von Bern
8 Alte und neue Helden, die Königlichen und das Wirtschaftswunder
9 Ein neuer Lebensabschnitt
10 Skandale, Enttäuschungen, Affären und Katastrophen
11 Eine neue Zeitrechnung beginnt und eine Hoffnung stirbt
12 Vieles ist neu
13 Zeiten des Wandels
14 Gewaltsame Zeiten
15 Auf zu neuen Ufern
16 Die goldenen 70er Jahre
17 Es ist nicht alles Gold was glänzt
18 Das Vaterland ruft
19 Abschied und Triumphe
20 Neue Epochen
21 Ein deutscher Herbst
22 Weißes Chaos und Schwarz-Weiß-Blauer Jubel
23 Polnische Hoffnungsträger
24 Die Sehnsucht nach Frieden
25 Ein „Grantler“ aus Wien formt ein europäisches Spitzenteam
Impressum neobooks
Am Nikolaustag des Jahres 2012 habe ich mein 60. Lebensjahr vollendet. „Mein Gott“ dachte ich „so alt fühlst du dich doch noch gar nicht“. Es bleibt aber nicht aus, dass ich ab und zu darüber nachdenke, was so alles passiert ist in dieser Epoche und so habe ich beschlossen, meine Erinnerungen an diese Zeit in einem Buch nieder zu schreiben. Zum Teil geht es dabei auch um Geschehnisse, die sich vor meiner Geburt zugetragen haben. Aber das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Folgen, die sich daraus ergeben haben, waren maßgebend für die nachfolgende politische und gesellschaftliche Entwicklung in Europa. Vieles ist geschehen seit meiner Geburt oder in den Jahren, bevor ich in der Wohnung einer niedergelassenen Hebamme das schummerige Licht der Welt erblickte. Dinge, die ich persönlich erlebt oder in den Medien verfolgt habe oder von denen ich gehört und gelesen habe. Dabei werden Erinnerungen wach an die Nachkriegszeit mit all ihren Entbehrungen, an den beginnenden Aufschwung in einem Land nach einem verheerenden Krieg, bis hin zur Wohlstandsgesellschaft.
Triumphe und Sensationen, aber auch Terror und Katastrophen, die sich in Deutschland, Europa und der ganzen Welt, ja sogar am Himmel ereigneten, waren mein ständiger Wegbegleiter, in den meisten Fällen zum Glück nicht mit meiner direkten Beteiligung. Ich erinnere mich an Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und des Sports sowie an die Musiktitel der jeweiligen Epoche. Vieles wird begleitet von persönlichen Erinnerungen, die ich mit den verschiedenen Ereignissen in Verbindung bringe. Es ist eine Menge geschehen in diesen 60 Jahren, doch zeitgleich mit all den wichtigen oder eher belanglosen Dingen fand die schönste Nebensache der Welt statt, der Fußball. Seitdem ich denken kann, hat mich dieser Sport in seinen Bann gezogen, ob als aktiver Spieler mit zugegeben überschaubaren Fähigkeiten oder als Zuschauer und Fan. Doch ich weiß, dass ich mit dieser Begeisterung nicht alleine stehe, sondern dass es unzählige Menschen auf der Welt gibt, denen es genauso geht wie mir und die meine Auffassung teilen werden, dass es kaum etwas so Unwichtiges gibt, was so wichtig ist, wie die schönste Nebensache der Welt. Es versteht sich von selbst, dass bei meinen Erinnerungen auch das Spiel mit dem runden Leder einen entsprechenden Raum einnimmt.
Ursprünglich wollte ich meine Erinnerungen an die Zeitgeschichte seit meiner Geburt in einem einzigen Buch zusammen fassen. Doch es ist auf der Welt so viel geschehen in dieser Zeit, dass man dies unmöglich in einem Buch zusammen fassen kann. So habe ich mich entschlossen, in diesem Band nur die Geschehnisse in Deutschland und auf der Welt bis zum Jahr 1982 zu schildern, als ich das 30. Lebensjahr vollendet hatte und damit langsam an das Ende meiner Jugend angelangt war. Die Geschehnisse auf der Welt ab 1983 bis zur Vollendung meines 60. Lebensjahres werden von mir in einem zweiten Band geschildert.
Für jeden Menschen sind die Dinge am wichtigsten, die ihn persönlich oder sein unmittelbares Umfeld betreffen. Die Lebensqualität wird in der Regel dadurch bestimmt, in welchem Land ein Mensch zufällig zur Welt kommt, ob er dort in Freiheit und in einer demokratischen Grundordnung oder in einem diktatorisch geführten Staat mit Terror und Gewalt aufwächst. Genauso zufällig ist es, ob die Kindheit im Wohlstand verbracht wird oder ob Hunger, Durst und Verfolgung an der Tagesordnung stehen. Durch Kriege, Terror und Katastrophen wird das Leben unzähliger Menschen gewaltsam beendet. Gleichzeitig sorgen Erfindungen und Entdeckungen in Wissenschaft und Technik zu immer besseren Lebensbedingungen in reicheren Regionen der Erde. Doch gleichwohl unter welchen Bedingungen die Menschen leben, ob in Armut und Leid oder in Wohlstand, Glück und Freiheit. Eines vereint sie auf der ganzen Welt: Die Liebe zum Fußball - der schönsten Nebensache der Welt.
Zufrieden schlummerte ich in meinem kleinen Bettchen und hörte im Unterbewusstsein, wie der Regen ohne Unterbrechung auf das Dach prasselte. Aber ich fühlte mich wohl, denn es war angenehm warm unter der Decke und ich wusste, dass ich mich nur lautstark bemerkbar machen müsste, wenn mir etwas fehlen sollte. Mit einem Schlag war es jedoch vorbei mit der Ruhe an diesem Sonntagnachmittag des 04. Juli 1954. Scheiben zersplitterten und Lampen fielen von der Decke. Die Menschen fielen über sich her, schrien und weinten. Was war geschehen? Eine Bombe war eingeschlagen. Diesmal aber nicht wie noch neun Jahre zuvor in irgendeinem Haus irgendeiner europäischen Stadt, sondern Zentimeter vorbei an den Fingern von Gyula Grosics, dem Torwart der Ungarischen Fußball- Nationalmannschaft. So oder so ähnlich mag es gewesen sein, als Helmut Rahn, der Rechtsaußen von Rot-Weiß Essen, im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz das 3:2 gegen die für unschlagbar gehaltenen Ungarn geschossen hatte. Es gab sicherlich kein Radiogerät in Deutschland, dass in diesem Moment nicht eingeschaltet war und aus dem die sich überschlagende Stimme des legendären Rundfunkreporters Herbert Zimmermann schallte, der von einem Fußballgott namens Toni berichtete, als der deutsche Torwart Toni Turek aus Düsseldorf tollkühn gegen den ungarischen Ausnahmefußballer Ferenc Puskas rettete und wenig später schrie: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus!! Deutschland ist Weltmeister!!!“. Auch ich werde seine Freudenschreie wahrscheinlich vernommen haben. Mit meinen gerade einmal eineinhalb Jahren habe ich die Bedeutung dieses Ereignisses aber nicht so wirklich einordnen können und um ehrlich zu sein, so richtig erinnern kann ich mich nicht daran. Aber für mich war es wohl die erste Begegnung mit der Faszination Fußball.
Für die Menschen in Deutschland, die diesen Endspielsieg gegen Ungarn bewusst miterlebt hatten, war es jedoch viel mehr als das banale Ergebnis in einem sportlichen Wettbewerb. Es ging ein kollektiver Jubelsturm durch eine ganze Nation, die mit allem Eifer, aber voller Depressionen angefangen hatte, das nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg zerstörte Land wieder aufzubauen. Ob bewusst oder unbewusst, ob aktiv oder nur duldend. Alle wussten, dass sie sich mitschuldig gemacht hatten an dem, was ihr Führer und seine Schergen unter ihrer Mithilfe angerichtet hatten. Und jetzt war ihr Land sensationell, gegen einen für übermächtig gehaltenen Gegner, Fußball-Weltmeister geworden. Stolz verkündeten die Deutschen Zeitungen: „Wir sind wieder wer“! Fußball – die schönste Nebensache der Welt. Nicht einmal zehn Jahre war es her, dass der Zweite Weltkrieg geendet hatte und Deutschland am Boden lag.
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