»Und dein neuer Lover heißt wohl Rainer?« Pia kann sich die Bemerkung einfach nicht verkneifen.
»Und selbst wenn, das hat dich überhaupt nicht zu interessieren«, zischt Phil. »Wie kommst du überhaupt darauf? Nur weil ich ein bisschen Tischtennis mit ihm gespielt habe und mir habe die Diskothek zeigen lassen?«
»Ach so nennt man das also. Disco zeigen.« Im gleichen Augenblick verwünscht sie sich. Vorwurfsvoller hätten ihre Eltern auch nicht reagieren können.
»Du hörst dich ja schlimmer an als meine Mutter.«
»Ich weiß«, sagt Pia.
»Also willst du jetzt mit mir reden oder nicht?« Phil funkelt sie wütend an.
Und wie Pia mit ihr reden möchte. Sie sieht Phil an. Phil ist immer noch so schön, dass ihr davon ganz schwindlig wird. Sie hört Andrea Verliebtheitsgefühle beschreiben und würde Phil am liebsten gleichzeitig schütteln. Entsetzlich! Ihr Herz rast, ihre Hände zittern. Sie versteckt sie schnell unter dem Abendbrottisch. »Ich habe euch gesehen in der Disco«, sagt sie schließlich mit erstickter Stimme.
»Du hast mir nachspioniert?« Phil schreit so laut, dass alle es hören.
»Nein, verdammt, wir waren schlicht und ergreifend verabredet und ich wollte nur wissen, wo du bist«, schreit Pia zurück. »Das ist ja wohl normal, oder?« Wütend knallt sie ihr Brotmesser auf den Tisch und verlässt den Esssaal.
Juni 1999 – September 1998
Pia ist aufgeregt. Seit einer halben Stunde sitzt sie jetzt schon vor dem Konferenzzimmer, in dem verhandelt wird, ob sie die zwölfte Klasse wiederholen muss oder ob es für die dreizehnte reicht. Das Ergebnis kann sie nicht einschätzen. Es war fast unmöglich, den Stoff von sechs Monaten in zwei Monaten nachzuholen und gleichzeitig den neuen Stoff zu lernen. Die letzten Arbeiten waren gut, keine schlechter als vier. Sie hat gelernt wie eine Bescheuerte, um die Versetzung zu schaffen. Trotzdem. Die Fehlzeiten reichen für mindestens fünf Schuljahre.
Pia hat irgendwie ein Talent darin, zum Problemfall zu werden. Vielleicht wird man das eines Tages und bleibt es dann den Rest seines Lebens.
Sie seufzt und starrt auf die Uhr. Wieder sind fünf Minuten vergangen und nichts regt sich hinter der verschlossenen Tür. Werden die denn nie fertig da drin? Wenn sie wenigstens mit jemandem quatschen könnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Aufs Lesen kann sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie bleibt immer wieder am selben Satz hängen. Missmutig holt sie aus und –
»Pia Drews, kommen Sie bitte herein.« Tadelnd sieht der Lehrer auf das quer über den Flur fliegende Buch.
»’tschuldigung«, quetscht Pia heraus, sammelt den Roman hastig auf und folgt ihm.
»Setzen Sie sich bitte«, fordert Schwester Grisaldis sie förmlich auf. Schüler des Internats werden ab der elften Klasse normalerweise gesiezt, Schwester Grisaldis duzt sie aber immer noch und Pia würde alles andere auch komisch finden, immerhin kennt Schwester Grisaldis sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr. Aber heute, das ist etwas anderes. Heute ist Schwester Grisaldis die Direktorin und Pia eine junge Erwachsene.
Pia sieht über den langen Konferenztisch zu ihr hinüber. Lächelt sie nicht ein wenig? Pia schaut noch einmal hin. Nee, wohl doch nicht. Zwanzig Augenpaare folgen ihr, als sie auf dem einzigen freien Stuhl Platz nimmt.
»Wir haben hier Ihren Antrag auf Versetzung nach Klasse dreizehn vorliegen. Trotz erheblicher Fehlzeiten, die wir eigentlich nicht tolerieren dürfen. Bevor wir jedoch zu einem ablehnenden Beschluss kommen, wollen wir Ihnen Gelegenheit geben, dazu Stellung zu nehmen.« Der stellvertretende Schulleiter, Direktor Hammer, zieht die linke Augenbraue hoch.
Ablehnender Beschluss? Aber alle Arbeiten waren doch okay, viele sogar sehr gut! Pia räuspert sich. »Ja, also die Fehlzeiten …«
»Etwas lauter bitte, wir alle möchten hören, was Sie vorzubringen haben«, lässt sich Direktor Hammer vernehmen. Er klingt gereizt.
Pia räuspert sich erneut. Ihr Blick begegnet dem von Schwester Grisaldis. Na los, scheint sie zu sagen. Mach schon, das ist deine Chance.
»Mit den Fehlzeiten, das ist tatsächlich der wunde Punkt«, sagt Pia nun wesentlich lauter.
Ein Schmunzeln geht durch die Runde.
»Wie kann ich Ihnen das erklären?« Pia seufzt. Schweigend sieht sie ihre Lehrer an. Einige kennt sie nicht.
»Fräulein Drews, wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit. Also, wenn Sie bitte so freundlich wären …« Direktor Hammer runzelt die Stirn.
»Im letzten Schuljahr hatte ich einige Probleme«, startet Pia den zweiten Versuch. Alle Lehrer sehen sie aufmerksam an. Pia fällt der Aufsatz ein, der in allen Fächern mit Eins bewertet wurde. Verantwortung für das eigene Handeln, denkt sie. Das wollen sie hören! Wenn ich das rüberbringe, kann ich das Blatt vielleicht noch wenden. »Im letzten Schuljahr habe ich irgendwie die Kontrolle über mein Leben verloren.«
Einige Lehrer nicken. Ihr Englischlehrer beugt sich vor und betrachtet sie aufmerksam. Möglicherweise mag er mich, denkt Pia plötzlich.
»Das lag daran, dass … dass ich versucht habe, wie die anderen Mädchen zu sein.«
Schwester Grisaldis lächelt zustimmend. Alle Lehrer lauschen erwartungsvoll. Die meisten sehen wirklich interessiert aus.
»Ich bin schon seit mehr als fünf Jahren hier. In meiner Familie konnte ich nicht weiterleben. Es war zu schwierig, wegen …« Pia schluckt. »Wegen meines Vaters.«
Einige Lehrer nicken erneut. Sie kennen die Geschichte.
»Die Mädchen aus meiner Gruppe haben das herausgefunden. Sie haben mich deswegen manchmal ziemlich … gequält«, erklärt sie zögerlich. »Die anderen Mädchen sind hier, weil die Eltern eine gute Ausbildung für sie wollen oder weil sie so viel arbeiten müssen, dass sie sich um ihre Töchter nicht kümmern können. Bei mir ist das anders. Das Jugendamt hat mich hier untergebracht. Das Anderssein war sehr schwer für mich. Ich habe versucht, Freundinnen in meiner Gruppe zu finden. Ich habe versucht, ihnen zu beweisen, dass ich genauso bin wie sie, dass ich auch mit Jungen …« Sie bricht ab. »Dass ich das mit meinem Vater nicht wollte.«
Im Konferenzraum ist es so still, dass Pia kaum zu atmen wagt. Sie hat plötzlich Angst, die Stille zu durchbrechen. Aber sie muss weiterreden. Sie will mit Andrea in einer Klasse bleiben.
»Ja, und eines Abends ist das Ganze dann eskaliert.«
»Na, Pia, kommst du heute Abend mit zur Rheinparty, oder treibst du es nur mit alten Männern?« Walburga sieht provozierend auf Pia hinab, die so sehr in ihre Matheaufgaben vertieft gewesen ist, dass sie die Mitschülerin gar nicht hat kommen hören.
Pia steht instinktiv auf. Sie hasst es, wenn jemand auf sie herabsieht. »Was?« Sie hofft, dass ihre Frage drohend klingt, obwohl sie den Sinn von Walburgas Worten überhaupt nicht kapiert hat. Nur, dass sie nichts Gutes im Schilde führt.
»Kommst du mit zur Rheinparty heute Abend, hab ich gefragt«, wiederholt Walburga.
»Nee«, will Pia das Gespräch schroff beenden.
»Wusst ich’s doch. Du stehst nur auf Männer, die dein Vater sein könnten.«
Pia spürt, wie sie blass wird. Aufspringen und die Mitschülerin zu Boden reißen ist eine Bewegung. »Du Ekelpaket«, zischt sie.
»Das wissen doch alle«, verkündet Walburga, während sie sich mühsam aufrappelt.
»Was, was wissen alle?« Ihr wird schwarz vor Augen. Sie kennt die Antwort schon. Walburga hat es herausgefunden. Alle wissen es. Ihr Schädel dröhnt, als würde ein ICE mitten hindurchfahren.
»Dass du es mit deinem Vater getrieben hast.« Walburga sieht sie triumphierend an. »Genau wie deine besten Freundinnen. Was das wohl für welche gewesen sind«, ergänzt sie höhnisch.
Читать дальше