«Dann mal her mit den Schlüsseln», sagte Schönbier und streckte die Hand aus, um sie sich von Mannhardt geben zu lassen.
Der hielt sie aber fest umschlossen. «Moment mal! Ist denn schon klar, wer fahren soll?» Am Steuer saß im Regelfall das Alphamännchen, und diese Rolle wollte er Schönbier nicht so ohne weiteres überlassen.
«Wer fahren soll?», wiederholte Schönbier. «Ich natürlich, ich bin schon viele Rallyes gefahren.»
«Das hier ist aber keine Rallye, sondern eine Dienstfahrt», sagte Mannhardt. «Und wenn sich einer in Berlin auskennt, dann bin ich es.»
Schönbier freute sich über dieses Eigentor. «Na prima, der Kartenleser hockt immer auf dem Beifahrersitz.»
«Ich bin auch noch da», sagte Yaiza Teetzmann. «Vielleicht will ich ja fahren.»
«Bitte.» Seit Jutta Kleinschmidt bei der Rallye Paris— Dakar Furore gemacht hatte, akzeptierte Schönbier Frauen als Autofahrerinnen.
«Nein danke, aber …» Damit hatte sie klargemacht, dass sie ihr Veto gegen Schönbier am Steuer einlegen würde.
Schönbier nickte. «Dann du! Du bist der Älteste.» Mannhardt ärgerte sich nun doppelt und dreifach.
Zum einen über das Du, das er noch immer nicht verdaut hatte, zum Zweiten über seine Zuweisung zum alten Eisen und zum Dritten darüber, dass er sich über das Du wie auch über den Hinweis auf sein Alter ärgerte.
«Wenn wir so weitermachen, kommen wir nie nach Schmöckwitz», stellte Yaiza Teetzmann fest.
«Dann fahren wir eben mit der Bahn», sagte Mannhardt.
«Das darf doch nicht wahr sein!», rief Schönbier.
«Doch. Die Leiche kann warten, und wir tun was gegen die Umweltverschmutzung.» Mannhardt freute sich über seine Idee, mit der er die Kuh vom Eis bekommen hatte. «Stimmen wir ab: Wer für die Bahn ist, der hebe die Hand.»
Er und Yaiza Teetzmann taten es, Schönbier nicht. Damit war die Sache entschieden, und nachdem sie im Internet die optimale Verbindung herausgesucht hatten, liefen sie zum Wittenbergplatz.
«Mit dem Bus zum Bahnhof Schöneberg, dann mit der S-Bahn nach Grünau und von da mit der Straßenbahn nach Schmöckwitz.»
SIEGFRIED SCHWELLNUSS war vor zwanzig Jahren nach Friedenau gezogen, um hier in der Aue des Friedens, wie er seinen Stadtteil immer nannte, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Mit Verena an seiner Seite, einer Grundschullehrerin. Doch die höheren Mächte hatten es anders gewollt, und die letzten Jahre waren die Hölle gewesen. Nach der Scheidung hatte er die Wohnung behalten, froh darüber, nun Platz für all seine Bücher und sogar kleinere Seminare zu haben. Doch dann hatte er Ulrike kennengelernt, und die hasste jede Form von Stadt, auch wenn sie so gehoben daherkam wie Berlin-Friedenau und große Männer wie Erich Kästner, Günter Grass, Uwe Johnson, Günther Weisenborn und Karl Schmidt-Rottluff als Mieter gesehen hatte, nicht zu vergessen die Comedian Harmonists. Ulrike klagte immer nur, sie würde in der Schwalbacher Straße ersticken, und entweder er zöge zu ihr hinaus nach Finkenkrug, was hinter Spandau im Brandenburgischen gelegen war, oder es wäre aus mit ihnen. Vielleicht hätte er nicht nachgegeben, aber da war ihm nach endlosen Streitereien vor mehreren Gerichten doch noch das ererbte Grundstück in Schmöckwitz zugefallen, und sie hatten beschlossen, das Haus am Imkerweg zu sanieren und auszubauen und dort einen Neustart zu wagen.
Es war nun viel zu planen und zu bedenken, so dass er sich zur Durchsicht zweier Hausarbeiten zum Thema Abnabelung von der Familie in den Zeiten des Nesthockers geradezu zwingen musste. «Und zwar mit der Pistole an der Schläfe», wie er Ulrike gegenüber betont hatte, denn er hasste es, wenn ihm junge Leute in umständlicher Art und Weise, in diesem Falle auch noch ziemlich unbeholfen, das mitzuteilen versuchten, was er schon lange wusste.
… ob die Abnabelung nach der Geburt wirklich zur Traumatisierung eines Menschen führt, wissen wir nicht so genau, weil man ja ein Baby nicht danach befragen kann, was es fühlt. Vielleicht ist es ja auch froh darüber, nun ein eigenständiger Mensch zu sein. Noch immer an der Nabelschnur hängend, könnte ja ein Mann kaum zum Torschützenkönig der Bundesliga werden.
Schwellnuss musste nun doch ein wenig schmunzeln, obwohl das Geschriebene mit Wissenschaft nicht viel zu tun hatte. An den Rand schrieb er: Sehr originell, aber ich bin nicht Mephistopheles, siehe Faust (Zeile 2009). Dort stand: Ich bin des trocknen Tons nun satt …
Die zweite Hausarbeit war ernsthafter angelegt, aber auch hier konnte er mitunter nur laut aufstöhnen und den Kopf schütteln.
Das Bestreben nach Neubelebung der kindlichen Einheit mit der Mutter in meinem Fallbeispiel kann man auch als Sucht verstehen. Er sucht/die Sucht – mit der Gleichheit der Worte ist schon alles gesagt. Der Volksmund sieht das auch so: Eifersucht ist, wenn man mit Eifer sucht. Einer meiner Freunde, 23 Jahre alt, verhält sich, wenn er betrunken ist, immer wie ein Baby und möchte sogar gewindelt werden, was voll in die Argumentationskette von Kernberg und anderen Autoren passt, dass Menschen nämlich mit pathologischer Mutterbindung dazu neigen, auf die Stufe eines Säuglings zu regredieren, um dadurch wieder mit der Mutter zu verschmelzen.
Fast hätte Schwellnuss an den Rand geschrieben: Ich hole meine Mutter auch zu mir ins Haus, ohne dass ich mich windeln lasse!
Was sollte er den beiden für Noten geben? Dieses Ringen um Gerechtigkeit war noch stressiger als die bloße Lektüre. Einerseits war er gern der milde Vater, andererseits mussten auch gewisse Standards der Profession beachtet werden. Am liebsten hätte er gewürfelt, aber Würfel ohne die Zahlen drei bis sechs gab es nun einmal nicht.
Sein Telefon sonderte die seltsamen Klingeltöne ab, die Ulrike so schön fand. Froh über die Störung, nahm er das schnurlose Gerät aus der Empfangsstation und meldete sich mit einem anonymen «Ja, bitte …?»
«Hier Grauen.»
«Hier auch …»
«Wie?»
«Nein, Schwellnuss, aber ich habe nur an meine Hausarbeiten gedacht.»
«Ah, Sie sind gerade beim Putzen?», fragte Günther Grauen.
«Hausarbeiten, nicht Hausarbeit», erklärte ihm Schwellnuss. «Was gibt es denn Neues?»
«Eher was Altes …», druckste Grauen.
«Wie?» Nun war es an Schwellnuss, nicht folgen zu können.
«In Schmöckwitz ist etwas Schreckliches passiert.»
«Was!? Sind die beiden jungen Leute beim Buddeln auf eine Bombe gestoßen und …?»
«Eine Bombe schon, aber keine, wie Sie denken. Machen wir es kurz: An der Außenwand Ihres Hauses ist eine Leiche gefunden worden, das heißt ein Skelett, und es sieht ganz nach Mord aus.»
«Na, wunderbar!», rief Schwellnuss. «Das steigert ja den Wert der Immobilie ungemein, vor allem wenn die Tat auch noch im Haus geschehen ist.»
«Das weiß die Kripo noch nicht, man wird sich aber bald bei Ihnen melden.»
Schwellnuss variierte seine Ausrufe. «Wie schön!»
Günther Grauen wurde langsam ungehalten. «Was kann ich denn dafür?»
«Nichts, aber … Die weiteren Pläne für Schmöckwitz können wir ja dann besprechen, wenn Sie mich mal im Knast besuchen.»
Als er wieder aufgelegt hatte, stürzte Schwellnuss ins Bad, wo Ulrike in einem irgendwie indisch anmutenden Kräutersud lag und auf eine wohltuende Wirkung für Leib und Seele hoffte. Nichts liebte sie mehr als diese exotischen Düfte und die göttliche Stille ringsum.
«Ist das alles eine Scheiße!», schrie Schwellnuss.
«Bitte», bat Ulrike ganz sanft, «nimm dich bitte etwas zurück, Siegfried.»
«Na, ist doch wahr! Da kämpfe ich nun fünfzehn Jahre, um endlich an dieses Haus zu kommen, und nun stellt sich heraus, dass da drin jemand ermordet worden ist! Die Leiche liegt im Garten, die haben sie vorhin gefunden.»
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