Ein schriller Schrei aus dem Kinderzimmer ließ ihn hochschnellen. Er lief über den Flur.
«Silvio, was ist?»
Der Junge zitterte am ganzen Leibe. Wie sich herausstellte, hatte er von einem Amokläufer geträumt.
«Der war auch in unserer Schule, Papa, und hat auf mich geschossen!»
Mannhardt verfluchte diese Welt. Es war unmöglich, die Kinder von allem abzuschirmen. Irgendwie kamen sie immer an Zeitungen und Magazine heran oder schalteten das Erwachsenenfernsehen ein, wenn die Eltern dachten, sie sähen Kika, den Kinderkanal.
«Ach, nimm das nicht so tragisch», sagte er zu seinem Sohn. «Ich habe den Krieg überlebt, da wirst du auch den Frieden überleben.»
Da erschien auch schon Heike auf der Bildfläche, nahm Silvio in den Arm und tadelte Mannhardt wegen seiner Worte. «Es wäre schön, wenn du einmal kindgerecht kommunizieren könntest.»
Wortlos entfernte er sich, um erst die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und dann ins Bad zu gehen. Vielleicht konnten sie in Silvios Schule einen privaten Wachdienst installieren und ihn zum Chef bestimmen. Ehrenamtlich natürlich. Dann hätte er wenigstens etwas Sinnvolles zu tun.
«Ich rufe dann auf dem Schulhof alle Messerstecher zusammen, und wir organisieren richtige Berliner Meisterschaften. 2012 werden wir dann olympisch, und der erste Olympiasieger kommt aus Berlin. Mit Migrationshintergrund, aber voll integriert. Durch mich.»
Als er am Frühstückstisch saß, stellte sich heraus, dass Heike ihn schon verplant hatte.
«Wenn du erst pensioniert bist, kannst du ja vormittags für mich recherchieren, wenn ich etwas nicht schaffe.»
Sie war Journalistin und freute sich auf eine kostenlose Hilfskraft.
«Und nachmittags?», fragte er.
«Nachmittags kümmerst du dich um Silvio, machst mit ihm Schularbeiten und fährst ihn zum Sport und zum Klavierunterricht.»
Mannhardt lächelte selig. «Es war schon immer mein Traum, Hausmann und ‹alleinverziehender› Vater zu sein. Du musst mir nur genug Puderzucker hinstellen.»
Heike hing sofort vor Wut an der Decke, denn nichts ärgerte sie mehr als sein Vorwurf, sie würde dem Sohn pausenlos «Puderzucker in den Arsch blasen», wie er gern sagte.
«Ich weiß, deine großen Kinder …»
Die hatte er aus seiner ersten Ehe, und wenn sie mit denen anfing, verstand er das als Kriegserklärung. So stand er auch heute abrupt vom Frühstückstisch auf. «Ich gehe jetzt lieber …»
«Erst fährst du Silvio zur Schule, du bist heute dran.»
«Okay, erst die Pflicht, dann die Flucht.»
Also blieb er, obwohl er sich den Stress, der nun begann, gern erspart hätte, denn Silvio ging nur sehr ungern zur Schule. Mannhardt hatte volles Verständnis dafür, so sehr Heike ihn deswegen auch verwarnte. Sie hätte gern ein Kind gehabt, das in Deutsch so sprachgewaltig war wie Günter Grass, in Mathematik so beschlagen wie Leonhard Euler, in Physik so genial wie Albert Einstein, in Kunst so einzigartig wie Pablo Picasso und in Sport so talentiert wie Dirk Nowitzki. Für Mannhardt dagegen war das Glück das Maß aller Dinge, und er hasste es, wenn Kinder in der Schule abgerichtet wurden, um vielleicht einmal an einer der Eliteuniversitäten studieren zu können. Ihm hätte es gereicht, wenn sein Sohn ein glücklicher Fahrer bei der Berliner S-Bahn geworden wäre.
«Papa, bist du eigentlich immer gern zur Schule gegangen?», fragte der Sohn, als sie im Auto saßen.
«Natürlich», log Mannhardt. «Es ist doch ein Segen, dass es die Schule gibt. Stell dir mal vor, wir würden nicht schreiben und lesen lernen. Was dann? Dann könnten wir den ganzen Tag nichts weiter tun, als vor der Glotze zu sitzen.»
«Das wär doch geil.»
Mannhardt stöhnte auf. Zum einen wegen der mit übermäßigem Fernsehgenuss verbundenen Volksverblödung, zum anderen, weil er immer heftig darunter litt, wenn die Kids das Wort «geil« verwendeten. In seiner Jugend hatte es einzig und allein für sexuelle Erregung gestanden, und als pubertierende Knaben hatten sie gereimt: «An den Akku angeschlossen, / vögelt Fickfack unverdrossen. / Kerzen, Möhren und Bananen, / ja, der Laie kann’s kaum ahnen, / was dieses geile Weib/schob sich in den Unterleib.»
Als er den Jungen vor der Schule absetzte, tat er ihm maßlos leid. Anstatt zu spielen und zu juchzen, musste Silvio sich jetzt mit Mathematik und Grammatik abquälen, und es überwog noch immer der Frontalunterricht preußischer Prägung. Was mussten jene Kinder leiden, die nicht einsehen wollten, warum es Pferd hieß und nicht Ferd, obwohl nur Bekloppte das P vorne deutlich aussprachen. Ohne kräftig Tröpfchen in die Luft zu spucken, ging das gar nicht.
Was ihn tröstete, war derselbe Operettenvers aus der Fledermaus von Johann Strauß, der schon seinen Eltern geholfen hatte: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Und wer immer strebend sich bemühte, dem wurde ja die Erlösung versprochen. Gut war nur, dass die Kinder nicht für das Leben lernten wie er früher, sondern nur für die Schule, denn das ließ hoffen.
Seit langem schon hatte Mannhardt auf das Auto verzichtet und setzte sich in die U-Bahn, um von Tegel aus ins Büro zu fahren. Dies war aber im Augenblick alles andere als eine Freude, denn zwischen Alt-Tegel und Kurt-Schumacher-Platz wurde die U6 runderneuert, und man musste den Bus benutzen. Und wenn er eines hasste, dann den Schienenersatzverkehr.
Heike arbeitete gerade an einer Radiosendung über die Berliner U-Bahn, und mit Vergnügen blätterte er immer wieder in ihrem Manuskript. 144,9 Kilometer Streckenlänge, 170 Bahnhöfe, seit 1902 in Betrieb. Schön waren die Geschichten um die U-Bahn. Ein George A. Goldschlag hatte sogar Die Ballade von der Untergrundbahn gedichtet, mit Versen wie: Elfmal jährlich, laut Statistik,/Springt ein Mensch mit schrillem Schrei/Als verkörperte Ballistik/Vor den Zug und wird zu Brei. Ab und an wurde auch die Mordkommission gerufen, wenn es hieß «Person im Gleis», denn es fielen nicht nur Selbstmorde und Unfälle an, sondern ab und an wurde auch jemand auf die Gleise gestoßen.
Die Busfahrt bis zum Kurt-Schumacher-Platz nervte, und an der provisorischen Endhaltestelle war der Zug in Richtung Alt-Mariendorf schon voll bis oben hin, aber er konnte sich gerade noch hineinquetschen.
Der Mensch, so hatte es bei Heike ein Psychologe ausgedrückt, sei ein Distanztier, und innerhalb von sechzig Zentimetern befinde man sich in der Intimzone des anderen. Schnell hatte Mannhardt herausgefunden, dass er sich bereits in der Intimzone von drei Frauen gleichzeitig aufhielt, ohne dabei jedoch auch nur ein Mindestmaß an Lust zu empfinden. Die eine litt unter Akne und roch nach faulendem Heu, die zweite war vom Kaliber «Alles hört auf mein Kommando!» und jagte ihm nur Angst und Schrecken ein, und die dritte war zwar jung und morgenschön, aber so dämlich, dass es schon weh tat. Wie sie mit ihren Klassenkameradinnen kommunizierte, rechtfertigte jede Befürchtung, nach der die Deutschen im intellektuellen Wettbewerb mit anderen Völkern hoffnungslos unterlegen sein würden. Da aber auch die drei Frauen ihn abscheulich fanden, war das Unbehagen geradezu mit Händen zu greifen. Man mied jeden Blickkontakt, schaute auf den Bildschirm an der Decke des Waggons, auf dem die neuesten Nachrichten flimmerten, oder in eine unbestimmte Ferne. Mannhardt erinnerte sich an eine Szene aus Heikes Feature, in der vom englischen Premierminister Tony Blair berichtet wurde, wie der einmal – ganz volksverbunden – in der U-Bahn eine Sitznachbarin angesprochen hatte und mit einem bösen Blick und eisigem Schweigen abgestraft worden war.
Um nicht der Frottage bezichtigt zu werden, dem Reiben der Genitalien am Körper eines anderen, und damit als Sittenstrolch dazustehen, versuchte Mannhardt, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den Frauen den Rücken zuzuwenden. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass sich in Tokio, wo das Grapschen zur Manie geworden war, die Männer demonstrativ mit beiden Händen oben an den Griffen festhielten, um nicht in Verdacht zu geraten.
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