«Alles so wie damals, kein Fertighaus und kein moderner Architekt mit pathologischem Selbstverwirklichungsdrang.»
Die Magistrale des Ortes war Berlins längste Straße, das Adlergestell, das schon in Schöneweide begann und hier in Schmöckwitz auf dem Damm lag, der den Zeuthener vom Langen und dem Seddinsee trennte.
Zwischen dem Adlergestell und der Straße am Seddinsee gab es drei Verbindungen, den Imkerweg, den Beutenweg und, als weitaus wichtigste, die Wernsdorfer Straße, die zur Brücke führte und den Verkehr mit Rauchfangswerder und Wernsdorf ermöglichte.
Die Grundstücke auf der westlichen Seite des Imkerweges reichten bis zu einer Ausbuchtung des Langen Sees hinunter, die Schmöckwitzer Hafen genannt wurde und mit Bootsstegen gesäumt war. Ureinwohner erinnerten sich noch, dass es hier einst einen Sumpf gegeben hatte und mit ihm einen Siedler namens Schulze, den Sumpf-Schulzen, nicht zu verwechseln mit dem Turm-Schulzen aus der Goulbierstraße.
Schräg gegenüber des Grundstückes, das jenem Sumpf-Schulzen einst gehört hatte, stand ein zweistöckiges, nicht unbedingt pompös zu nennendes Landhaus aus wilhelminischer Zeit, das mit viel Schinkel an der Fassade einiges herzumachen versuchte, aber inzwischen so stark in die Jahre gekommen war, dass sich sein Besitzer in vielen schlaflosen Nächten gefragt hatte, was denn sinnvoller sein würde: sanieren oder abreißen. Er hatte sich schließlich für die erste Alternative entschieden und der Baufirma von Günther Grauen die Sache übertragen.
So waren Ratajczak und Timo Zott zu ihrem Job in Schmöckwitz gekommen. Rabitzwände mussten abgetragen werden, damit die Räume größer wurden, Sauerkrautplatten, die nur noch schlecht isolierten und nach Marderkacke stanken, waren von den Dachschrägen zu reißen, Furchen in den Putz zu ziehen, um elektrische Leitungen unter den Putz zu legen, uralte Heizkörper abzuschrauben und in den Schuttcontainer zu tragen, dicke Farbschichten von den Türen und Fensterrahmen zu schleifen, zu brennen und zu laugen und Tapeten aus dem Jahre 1962 von den Wänden zu lösen.
Diese Aufgabe übernahm Timo Zott, denn als Makulatur hatte man damals Exemplare des Neuen Deutschland, benutzt, und bei der Lektüre konnte er manch neue Erkenntnis gewinnen. Ratajczak dagegen schlug und kratzte gern blühenden Putz von den Wänden, denn das erinnerte ihn immer an ein Praktikum in Pompeji und Herculaneum, bei dem sie mit viel beruflicher Lust und privater Liebe römische Villen freigelegt hatten.
Zum Frühstück trugen sie Tisch und Stühle aus dem Haus, um es sich auf der Streuobstwiese hinter dem Haus gemütlich zu machen.
«Richtig so, hier zu frühstücken», sagte Timo Zott. «Als Gutmenschen müssen wir natürlich etwas für die Zecken tun. Überall werden sie verteufelt und gejagt.» Er entblößte sein rechtes Bein. «Kommt nur her, ihr Lieben, an unserem Blute könnt ihr euch laben.»
Ratajczak wusste nicht so recht, ob das Tun seines Freundes den strengen Regeln der Political Correctness entsprach, und lachte nur unter Vorbehalt. «Ich sprühe mich lieber mit Autan ein.»
«Pfui, Chemie!»
«Besser als Borreliose.»
«Mit Borrelien in der Hose griff er nicht an ihre Dose», reimte Timo Zott.
Ratajczak verzog das Gesicht. «Langsam geraten wir unter unser Niveau.»
«Nur dort wohnt das Glück», erklärte Timo Zott. «Wo wohnt aber der Glück, Alois Glück, der bayerische Landtagspräsident? Wahrscheinlich in München, aber: Further research is needed.»
Ratajczak spitzte die Ohren. «Ich glaube, wir bekommen Besuch.»
«Was ’n Glück!»
Am Zaun erschienen Günther Grauen, der die Sanierung des Hauses übernommen hatte, und der Psychologie-Professor Dr. Siegfried Schwellnuss aus Friedenau, der spätestens zu Beginn des Wintersemesters hier einziehen wollte. Man kannte sich schon, und die Begrüßung fiel kurz und geschäftlich aus.
«Nun wird doch alles anders, was das Souterrain betrifft», sagte Grauen. «Keine Abstellräume, sondern eine richtige Einliegerwohnung.»
«Ja», ergänzte Professor Schwellnuss, «meine Mutter will da einziehen.»
Ratajczak lachte. «Ich verstehe: Sie schreiben doch gerade ein Buch über pathologische Mutterbindung.»
Professor Schwellnuss zog die Augenbrauen hoch und seufzte hörbar. «Ja klar, wir Psychologen haben dieses Fach nur gewählt, um uns selber therapieren zu können.»
«Ich habe mir ja mein Haus auch selbst gebaut», sagte Grauen.
Ratajczak überlegte einen Augenblick. «Auf meine Profession bezogen hieße das, dass ich in tausend Jahren meine eigenen Knochen ausgraben möchte.»
«Lass dich rechtzeitig klonen», riet ihm Timo Zott, «dann geht das schon. Aber warum bin ich Historiker geworden?»
«Um vielleicht selbst einmal in die Geschichte einzugehen», meinte Professor Schwellnuss.
«Danke für Ihr Vertrauen in mich und meine Produkte.»
Grauen nahm das auf. «Bitte! Und darum fangt nachher gleich mal an, die Grundmauern freizulegen, wir müssen ja nun um die Einlegerwohnung herum alles isolieren.»
«Meine Mutter mit ihrem Rheuma!», rief Professor Schwellnuss. «Bloß keine feuchten Räume.»
«Also, Jungs, gleich in die Hände gespuckt, wenn wir wieder weg sind», sagte Grauen. «Einen Meter Breite, bis auf die Hausplatte runter.»
Die beiden machten sich sofort ans Werk, denn es war allemal besser, draußen an der frischen Luft zu schippen, als drinnen im Haus im Dreck zu wühlen. Um das Haus herum waren Gehwegplatten verlegt, damit die Erde nicht gegen den grauweißen Putz spritzte, wenn es regnete oder man beim Sprengen den Wasserstrahl nicht richtig reguliert hatte. Die länglichen Platten stammten noch aus DDR-Zeiten, erkennbar an den gelben und rötlichen Pastelltönen und der typischen Oberflächenstruktur. Beim Hochheben zerbrachen viele von ihnen.
«Macht nichts», sagte Timo Zott. «Mein Onkel schwört ohnehin auf Waschbeton und wird dem Schwellnuss sowieso welchen aufschwatzen.»
Nachdem sie die Platten abgeräumt hatten, konnten sie beginnen, das Mauerwerk freizulegen. Wurzeln gab es hier nicht viele, es war nur darauf zu achten, die ins Haus gehenden Leitungen nicht zu zerstören. Beide gingen nicht ins Fitnessstudio, und da ihre Lieblingssportart das Schachspiel war, ließen sie es ruhig angehen. Der Nachbar rief herüber, ob er seinen Zweijährigen mit dem Buddeleimer rüberschicken solle, damit sie schneller vorankämen.
Nach etwa einer Stunde schrie Ratajczak auf. «Mensch, was ist denn das?»
«Bist du auf Kupfer gestoßen?», fragte Timo Zott. «Reichen die Lager von der Lausitz bis nach Schmöckwitz rauf?»
«Nein, das sind Knochen.»
Timo Zott lachte. «Was soll ein Archäologe auch anderes finden? Der Vorbesitzer wird ’nen Hund gehabt haben.»
«Quatsch!» Ratajczak sprang in die Grube hinunter, um mit den Händen das freizulegen, was er für einen menschlichen Oberschenkelknochen hielt.
HANS-JÜRGEN MANNHARDT blieb noch eine Viertelstunde, nachdem der Wecker geklingelt hatte, im Bett liegen und fand einfach nicht die Kraft, die Füße auf den Boden zu setzen und ins Bad zu gehen. Der Tag seiner Pensionierung rückte immer näher, und das lähmte ihn. Alles, was ihm durch den Kopf ging, hing mit Abschied und Vergänglichkeit zusammen.
Aber der Wagen, der rollt … Alles hat seine Zeit … The rest is silence … Der Rest ist Sterben …
Abschied ist ein scharfes Schwert, hatte Roger Whittaker gesungen, und was den Abschied von der Arbeit anging, da glaubte Mannhardt, dass ihm dieses Schwert den Kopf vom Rumpf schlagen würde. Seine Mordkommission war sein Leben, und wer sie ihm nahm, tötete ihn.
Kam er Heike, seiner Lebensgefährtin, mit seinen Depressionen, dann lachte die nur: «Was hast du all die Jahre über geklagt, dass du ausgebrannt bist, dass du es hasst, Mörder zu jagen, dass du nur deine Ruhe haben willst!» Und systematisch suchte sie ihm Sprüche heraus, die alles relativierten, wie etwa: Füge dich der Zeit, erfülle deinen Platz und räum ihn auch getrost: Es fehlt nicht an Ersatz! von Friedrich Rückert.
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