Nun begannen auch die Telefonate während der Autofahrten und obwohl es verboten war, war das Handy von meinem Ohr beim Fahren nicht mehr wegzudenken. Ich war traurig, wenn die Fahrt beendet war und rettete mich mit meiner Sehnsucht von einem Telefonat zum nächsten. Wir sprachen über Gott und die Welt, planten unsere paar Stunden, vermieden es aber, über die Zukunft zu reden. Wir wussten, dass unsere Zuneigung kein Ziel hatte, versuchten gegenseitig Vernunft zu zeigen und klammerten gleichzeitig am anderen, wünschten ihn in der Nähe und Verbindung zu ihm. Ich wollte meine Ehe retten, Jens wollte bei Sonja bleiben. Keiner schaffte es, dies konsequent umzusetzen. Sondern wir fieberten unseren kurzen geheimen Treffen entgegen, die von Tränen und Küssen erfüllt waren und den Versprechen, einander freizugeben und das Verhältnis endlich zu beenden.
Eines Tages machte Jens den Vorschlag, nicht „nur durch den Wald zu latschen“, sondern uns näher zu kommen, also mehr als nur zu küssen. Damit wurde das Unausgesprochene zur Wirklichkeit, wir wussten beide, was passieren würde. Ich war glücklich über diesen Vorschlag, zumal es ihm offenbar nicht nur ums Bett ging, sondern viel mehr Leidenschaft dahinter steckte als bloßer Sex. Wir wollten es beide, seine Gefühle konnte keiner mehr verbergen, wir konnten uns noch so bemühen. Einerseits konnte ich es kaum erwarten, meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, ihn endlich für mich zu haben, ihn zu berühren und ihm zu zeigen, wie sehr ich ihn mochte. Andererseits hoffte ich, dass es vielleicht für uns beide eine Enttäuschung werden würde und wir so feststellten, dass wir doch nicht zusammenpassten, sodass alles ein Ende finden konnte. Ich würde ihn vergessen und vielleicht zu Hause auch „beichten“ und dann wäre alles wieder gut … Doch zunächst gab es für mich nur noch den letzten Tag des Monats, es war ein Donnerstag. Weiter konnte und wollte ich nicht denken. Alles danach war in meinem Kopf ein schwarzes Loch.
Dann war der heiß ersehnte Tag endlich da. Ich hatte Holger erzählt, dass ich einen Außentermin hätte und telefonisch nicht erreichbar sei. Das war nun die größte Lüge seit Beginn meiner Beziehung zu Jens, aber es sollte auch die letzte sein! – Mit Jens war ausgemacht, dass ich mein Auto auf einem Parkplatz stehen lasse und wir mit seinem weiterfahren würden, an eine Stelle, wo wir ungestört sein konnten. Als ich in meinem Auto saß, war die ganze Vorfreude wie weggeblasen, die Gefühle für Jens waren so unwirklich. Ich wollte nicht drüber nachdenken, was mich jetzt erwartete. Mein Herz raste wie vor einer Prüfung. Er stand bereits auf dem Parkplatz und in dem Moment als wir uns begrüßten, klingelte mein Telefon. Es war Holger. „Bist du schon im Büro? Ich bin beim Korbmacher und hole dein Tablett ab, brauchst du also nicht mehr hinfahren.“
Ich war wie versteinert. Es war nicht das erste Mal, dass uns Holger „begleitete“. Wir fuhren vom Parkplatz, es herrschte eine gedrückte Atmosphäre. Keiner wusste, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten soll. Als wir uns endlich gegenüber saßen, unbeobachtet, vertraut, und doch so fremd, konnten wir uns nicht rühren, saßen einfach nur da, ohne Gesprächsstoff, ohne Zärtlichkeiten, wie erstarrt. So verstrich die Zeit. Ich fragte mich, wofür ich eigentlich diesen Aufwand betrieben hatte. Wir überlegten laut, ob wir alles abbrechen und zurück zum Auto gehen sollten. Das war wohl der Moment, als das Eis brach. Die Scham wechselte zu Vertrautheit. Wir verlebten die schönsten Stunden seit dem Anfang unserer Beziehung. Der erhoffte Reinfall stellte sich nicht ein. Die Zeit verflog im Nu. Beide wollten wir, dass das der Abschied war. So gingen wir auseinander, weinend, verzweifelt.
Ich fuhr mit dem Auto in die Stadt und schaute mich erstmalig nach einem Kleid für die Silberhochzeit um. Holger drängelte schon lange, ihm war es wichtig, dass ich was Schönes fand. Doch gleich schämte ich mich, was für ein abgebrühter Mensch ich war. Vor einer Stunde war ich noch fremdgegangen und nun beschäftigte ich mich mit meiner Silberhochzeit. Was war bloß aus mir geworden? Und ich hatte keinen Schimmer, wie es weitergehen sollte. „Wie wird sich Jens jetzt verhalten? Geht er mir aus dem Weg? Reden wir nicht mehr miteinander? Wird er sich seiner Sonja jetzt besonders widmen? Kämpft er genauso mit seinen Gefühlen? Komme ich tatsächlich von ihm los? Kann ich ihn ignorieren?“ Zu kündigen und einfach woanders anzufangen, war auf dem aktuellen Arbeitsmarkt illusorisch und es war schade um die Zeit, darüber nachzudenken. Ich hatte einen gutbezahlten Job, der mich ausfüllte und mir Spaß machte, kam mit vielen Leuten zusammen und man respektierte mich. Oft war es anstrengend, aber ich behielt den Überblick. Das aufzugeben ging einfach nicht, obwohl es mir in den letzten Wochen immer schwerer fiel, die Termine zu organisieren und etwas voranzutreiben. Ich musste mich wieder in den Griff kriegen, bevor es andere merkten!
Zu Hause angekommen, klingelte bereits das Telefon. Es war Jens. Die Trennung hatte gerade mal drei Stunden angehalten. Danach stürzte ich mich in meine Haus- und Gartenarbeit und pflanzte Stauden. Holger hatte nicht gefragt, wie mein Tag gewesen war und ich war froh, dass ich nicht noch mehr lügen musste. Weil ich aber so verschlossen und ruhig war, wollte er wissen, was mit mir los wäre. Jetzt kam alles auf einmal: morgens das einschneidende Erlebnis mit Jens und abends das Ausweichen beim Ehepartner. Ich hatte nur noch Angst und funktionierte wie eine Maschine. Ich fühlte mich so schäbig. Aber Holger merkte nichts, ich konnte meine wahren Gefühle tatsächlich verbergen. Wieso war ich dazu in der Lage? Aus Angst versagt zu haben, aus Angst, dass er ausflippen würde, aus Scham vor mir selbst und vor den anderen? Aus der Hoffnung heraus, es würde alles wieder gut werden? Aus Mitleid gegenüber Holger, weil er das nicht verdient hatte? Dieses schäbige Gefühl verfolgte mich die ganze Nacht hindurch.
Die nächste Zeit verlief mit Jens wie vorher, wir redeten. Auf meine Arbeit konnte ich mich nicht mehr richtig konzentrieren und war froh, wenn nicht so viele Leute um mich herum waren. Mit Jens war es so unwirklich, was passiert war. Jeder suchte die Nähe des anderen, keiner sprach das Thema „Abschied“ an. Wir verabredeten uns sogar noch mal nach Feierabend für eine halbe Stunde. Das ging solange gut, bis Sonja merkte, dass Jens von mir nicht lassen konnte und psychisch zusammenbrach. Jens zog sofort die Konsequenzen. Er ließ mich eiskalt im Regen stehen. Ich fühlte mich so allein und benutzt. Die folgenden Wochen waren die Hölle. Wir versuchten uns aus dem Weg zu gehen, die Tränen zu verbergen.
Eines Tages musste ich für unseren Chef zum Geburtstag Blumen besorgen. Sie sollten im kühlen Raum versteckt werden, zu dem nur zwei Leute einen Schlüssel hatten, einer davon war Jens. Er sollte mir die Blumen am Hintereingang abnehmen und verstecken. Ich war so aufgeregt, die Chance zu haben, nach Wochen mit ihm mal kurz alleine sein zu können und hatte aber zugleich Angst davor, dass wir uns streiten könnten. Als ich ihm die Blumen brachte, wusste er nicht, wie er mit mir umgehen sollte. Ich sagte: „Jens, ich halte diesen Zustand nicht mehr aus. Lass uns noch mal reden.“
Er antwortete nicht und drängte mich zur Tür hinaus, damit uns Sonja nicht entdeckte. Ich war so wütend, gekränkt, gedemütigt, obwohl ich ja diejenige gewesen war, die sich so siegessicher war, mit ihm abschließen zu können.
Zu Hause wurde ich zunehmend unausgeglichener, blubberte meine Kinder wegen Kleinigkeiten an und ging Holger aus dem Weg. Holger „quälte“ sich ebenfalls durch seinen Alltag, war unzufrieden mit seiner Arbeit, bemerkte aber dadurch wahrscheinlich meine Veränderungen nicht. Er war auch immer so hektisch und malte alles schwarz. Er zeigte keinerlei Trauer bezüglich seiner Mutter und ich dachte, dass er es recht gut und schnell verkraftet hätte. Wir hatten sie ja monatelang leiden gesehen, für sie war es sicher erlösend, als diese Quälerei ein Ende hatte. Vielleicht dachte er auch so und war deshalb so schnell drüber weggekommen?
Читать дальше