Ich war geschockt, und maßlos enttäuscht, mir war, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich saß vor meinem Computer und hatte eigentlich fix meine Steuererklärung fertigmachen wollen, bevor ich zum Arzt musste. Aber nun war ich völlig unfähig. Ich schmiss diesen elenden Papierkram zur Seite.
Beim Arzt saß ich wie geistesabwesend. Es ging um die Auswertung meines EKGs, da ich öfters unter Herzrasen litt. Natürlich war wieder nichts gefunden worden und wenn, wäre es mir in diesem Augenblick auch egal gewesen. Ich war so gekränkt. „Wie soll es nun weitergehen? Jetzt ist alles noch schlimmer als vor einer Woche. Dieses Schwein! Wollte nur eine Abwechslung und dachte, ich sei leicht ins Bett zu kriegen? Er tanzt auf mehreren Hochzeiten und kostet sein Männerdasein in vollen Zügen aus! Ist das wirklich der Jens, den ich so schätze?“ Vom Arzt zurück, setzte ich mich auf mein Fahrrad und fuhr ziellos durch die Gegend. Das hatte ich noch nie alleine gemacht, obwohl wir mitten im Grünen wohnen. Ich versuchte, die Natur zu genießen. „Ich muss doch bescheuert sein, falle auf so einen Typen rein! Ich habe alles, was man sich wünschen kann: eine wunderbare Familie, einen gutaussehenden, großen, stattlichen, fleißigen, hilfsbereiten und fürsorglichen Mann.“
Holger ist etwa so groß wie Jens, keiner glaubt, dass er schon 50 wird. Früher wurden wir manchmal für Geschwister gehalten, vielleicht weil wir beide dunkelblonde Haare haben. Klar könnte er ein paar Kilo abspecken, und weil sein Bauch immer größer wird, führt dies öfters mal zu Streit. Den gibt es auch schon mal wegen der Kindererziehung oder seines Mäkelns beim Essen oder wenn er bei einer Feier oder beim Tanz zu viel trinkt. Aber wir unternehmen auch viel gemeinsam, fast zu viel, und sind im Großen und Ganzen ein harmonisches Paar. Für Zärtlichkeiten müsste man sich mehr Zeit nehmen, aber meist steht die Arbeit vornan, und dann ist man froh, endlich ins Bett fallen zu können, anstatt mal ein Glas Wein gemeinsam zu genießen. Der Große würde dieses Jahr sein Studium abschließen und nicht mehr nach Hause zurückkommen. Der Kleine besuchte die 10. Klasse, nach seinem Abi würde auch er nicht in der Heimat studieren. Der Gedanke, dass beide Kinder mal weg sein würden, machte mich zwar traurig, doch ich hoffte auch, dass ich dann weniger Stress und Verpflichtungen hätte. So war das Eheleben bisher verlaufen. Wir hatten ein schönes Haus inmitten der Natur, liebe und fleißige Söhne und kaum Geldsorgen. Wir machten wunderschöne Urlaube und ich konnte mit ruhigem Gewissen behaupten, unsere Kinder hatten eine wunderbare Kindheit gehabt. – Und nun das! Warum war ich bloß auf so einen Kerl reingefallen und setzte das alles aufs Spiel? „Wenn ich morgen auf Arbeit bin, werde ich ihm nicht in die Augen sehen können, sondern nur noch heulen. Mittags will er mit mir reden, was soll das werden?“
Der Fahrer stand pünktlich vor der Tür und während wir uns der Arbeitsstelle näherten, wurde ich von Kilometer zu Kilometer aufgeregter. Jens und ich begrüßten uns nur kurz und dann konzentrierte ich mich auf meine Arbeit und meine Kollegen. Trotzdem konnte ich kaum erwarten, dass es Mittag wurde.
Wir fuhren mit seinem Auto drei Straßen weiter und er überreichte mir nachträglich zum Geburtstag sein „Abschiedsgeschenk“: eine CD von Rosenstolz. Er weinte bitterlich, drückte mich ein letztes Mal und bat nochmals um Verzeihung für das, was er mir angetan hatte. Wir weinten beide haltlos und ich konnte ihm einfach nicht mehr böse sein, es war doch so endlos traurig. Er wollte mich zum Abschied noch einmal küssen, doch ich entzog mich ihm mit der Begründung, dass ich ihn nicht anstecken wollte. Ich hätte ihn gern geküsst, aber die Vernunft siegte.
Als ich nach Hause kam, war ich noch allein und hörte mir gleich die CD an. Ich kannte Rosenstolz nur flüchtig und achte sonst meist mehr auf die Musik. Nun konzentrierte ich mich völlig auf die Texte und verstand bei jedem Titel mehr, was Jens mir damit sagen wollte. Ich weinte und weinte. Da klingelte das Telefon. Meine beste Freundin, sie heißt auch Martina, war am Apparat.
Wir kennen uns seit dem Studium, unsere Männer verstanden sich gut und unsere Kinder wuchsen mit dieser Freundschaft auf. Aber das Schicksal beutelte sie, Martinas Mann starb ganz plötzlich an einem Aneurysma. Ich bewunderte sie für ihre Stärke und wie sie das alles ausgehalten hatte. Seit Kurzem gab es wieder einen Mann in ihrem Leben, ich freute mich, dass sie wieder glücklich war. Ausgerechnet sie erwischte mich nun zum ungünstigsten Zeitpunkt und merkte natürlich sofort, wie traurig ich war. Ich erzählte ihr, was in den letzten zehn Tagen abgelaufen war. Dass ich meine Gefühle nicht in Griff bekam und darüber nachdachte, meinem Mann alles zu offenbaren.
Martina tröstete mich. Sie wusste, dass Gefühle einen beherrschen können und fragte mich, was ich denn meinem Mann sagen wollte? Dass ich mich von einem Kollegen hatte küssen lassen, der aber noch eine andere habe, weswegen ich traurig sei? Was ich denn damit erreichen wollte, wo Holger doch so eifersüchtig sei? Ja, sie hatte recht. Ich wusste wirklich nicht, was ich meinem Mann erklären wollte und hätte wahrscheinlich nur unnützen Streit vom Zaun gebrochen. Diese Gefühle würden schon wieder vergehen! – Das Gespräch mit ihr hat mir sehr gut getan.
Bald ging es mir mit meiner Angina besser und ich suchte mir zu Hause Arbeit, um mich abzulenken. Jeden Tag telefonierte ich mit Jens. Er wusste, wann und wie lange die „Luft rein“ war und wir vereinbarten Anrufzeiten. Er hatte sich zwar von mir mit seinem Rosenstolz-Geschenk „verabschiedet“, aber jeder wartete trotzdem auf das tägliche Telefonat.
Am ersten Arbeitstag wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wir machten uns aus, uns am nächsten Tag in der Mittagspause doch noch mal zu treffen und darüber zu reden, wie es jetzt weiter gehen sollte.
Als er auf mich zu kam, fiel mir seine Jeansjacke auf, die er trug. Ich war eine andere Kleidungsordnung gewöhnt von Männern Mitte vierzig. Es gefiel mir auch nicht und ich redete mir ein: „Wir passen ja gar nicht zusammen, so wie der rumrennt.“ So wollte ich mich zwingen, Abstand zu ihm zu gewinnen. Als wir im Auto saßen, damit uns keiner sah, sagte ich ihm, dass ich niemals eine Nebenbei-Beziehung eingehen würde, denn in meinem Leben gäbe es so etwas nicht, hopp oder topp. Er erklärte mir, dass ein Wechsel von einer Affäre in eine andere nicht in Frage käme, er dieses Versteckspiel zu Hause und die Suche nach Alibis leid sei. Außerdem sähe er, dass meine Ehe in Ordnung sei und wolle sich nicht reindrängen. Zum Schluss fragte er mich, ob ich einen letzten Kuss zulassen würde, da ich dies beim letzten Mal wegen der Ansteckungsgefahr verweigert hätte. Ja, ich ließ es zu. – Und dann war es wieder so vertraut und innig, als ob wir schon jahrelang zusammen wären …
Das war am Dienstag in der Karwoche, für Gründonnerstag hatte ich Urlaub eingereicht. Wir hatten uns zwar mit klaren Worten im Auto verabschiedet, doch keiner hielt sich an diese Abmachung. Jeder suchte ein Bewerbchen, um dem anderen nah zu sein. So telefonierten wir auch am Gründonnerstag, an dem er sich nachmittags mit Sonja treffen würde, wie sie es jedes Jahr taten. Dieses Gespräch tat mir sehr weh, es war gemischt von Sehnsucht, Eifersucht, Verletztheit. Später bekam ich dann eine SMS von ihm:
„Liebe Martina, ich habe mit Sonja gesprochen. Ich werde bei ihr bleiben. Es tut mir alles leid und ich wünsche dir viel Glück für deine Zukunft.“
Ich las immer und immer wieder diese Zeilen und konnte es nicht fassen, was passiert war. „Mittags war doch alles noch ganz anderes gewesen? Und jetzt dies?“ Ich wollte es nicht wahrhaben, obwohl ich ja wusste, dass es mit uns nichts werden konnte. Ich arbeitete wie eine Besessene und war froh, dass ich den anderen aus dem Weg gehen konnte.
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