Marianne und Klara stimmen ihr lachend zu.
Klara hat heute Morgen ihre erste Sitzung bei Marianne. »Ich finde, wir bleiben bei diesem schönen Wetter im Garten«, schlägt sie vor. Das ist Klara sehr recht. Draußen fühlt sie sich freier und ungezwungener.
Klara erzählt Marianne von ihren Träumen, die seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter wieder vermehrt auftreten und in ihr Angst und Schlafstörungen auslösen. Ihre Panikattacken, die sie so plötzlich überfallen haben und mittlerweile ihre Angst vor der Angst sind Themen in dieser ersten Stunde.
»Ich hoffe, dass du mir helfen kannst, wieder gesund zu werden.« Klara schaut Marianne hoffnungsvoll an.
»Viele meinen, allein der Besuch bei einem Therapeuten würde schon genügen, um gesund zu werden. Das ist ein Irrglauben, mit dem man heutzutage viel Geld verdient. Therapie bedeutet immer, an sich selbst zu arbeiten. Der Therapeut gibt nur Impulse, umsetzen muss sie der Klient selbst. Das kann unter Umständen sehr schmerzhaft sein, denn das heißt, mit eigenen Schattenanteilen konfrontiert zu werden, alte Traumata, Verdrängtes oder Unverarbeitetes aufzudecken oder noch einmal zu durchleben. Ein Therapeut kann nicht heilen. Gesundwerden kann der Mensch nur aus sich selbst heraus und den Weg dorthin, muss er allein gehen. Verstehst du, was ich damit sagen möchte?«, fragt Marianne.
Klara nickt beklommen. Ihr wird es erst jetzt richtig bewusst, dass sie einen weiten Weg zurücklegen muss.
»Ich werde mitarbeiten, denn ich möchte wieder ganz gesund werden!«
»Sehr gut, dann beginnen wir mit der Therapie.«
Am nächsten Tag fährt Margo allein nach Stuttgart zurück. Klara hat sich entschlossen, mit Sunny eine längere Zeit bei Marianne zu bleiben. Für Klara beginnt eine interessante Zeit.
Ein klar strukturierter Tagesplan wird aufgestellt. Meditation, Yoga und Atemübungen, Spazierengehen, gesunde, vollwertige Ernährung und frühe Bettruhe stehen auf dem Programm. Gespräche, Malen, Plastizieren und Tagebuchschreiben füllen ihre Zeit aus. Als Klara ihre Träume schildert, fragt Marianne, ob sie eine Schwester gehabt hätte, die gestorben sei, was Klara aber verneint. Marianne versetzt Klara daraufhin in Hypnose: Sie führt sie in das Alter von drei Jahren zurück. Klara geht einen Weg entlang. Plötzlich steht sie vor einem großen, schmiedeeisernen Tor, das verschlossen ist. Das Weitergehen wird ihr verwehrt. Marianne fragt sie, was sie sieht, wenn sie durch die Eisenstäbe des Tores schaut. Klara kann nichts erkennen, denn dahinter ist alles schwarz. Aber aus der Ferne ertönt Meeresrauschen und sie hört das bitterliche Weinen eines Kindes. Als Klara beginnt, unruhig zu werden, führt Marianne sie aus der Hypnose zurück. Die Türe zu ihrer Kindheit scheint noch fest verschlossen zu sein!
Klara erzählt viel von ihrer verhärteten, abweisenden Mutter und dem Vater, der die Familie verlassen hat, als sie gerade fünf Jahre alt war.
»Wie sind deine Gefühle zu ihnen?«
»Wenn ich an meine Mutter denke, dann fühle ich Schmerz über ihre Ablehnung und auch Ärger und Wut. Trauer über ihren Tod fühle ich momentan nicht. Meinem Vater kann ich seinen Weggang nicht verzeihen!« Auch von ihrer Ehe mit Jens berichtet sie und das erste Mal kann sie mit jemandem über den Schmerz und den Hass sprechen, mit dem sie seit bald zwanzig Jahren lebt. Auch ihm könne und wolle sie nicht verzeihen.
Klara geht nach dieser schmerzhaften Stunde bei Marianne mit Sunny spazieren. Die Erinnerungen kommen ganz unvermittelt und mit einer solchen Klarheit, dass sie sich auf eine Bank setzen muss. Sie erlebt wieder die Freude ihrer Schwangerschaft. Sie ist jetzt schon im fünften Monat. Ihr Baby, es wird ein Mädchen, ist lebhaft und strampelt. Sie freut sich, die Bewegungen ihres Kindes zu spüren. Sie wollen sie Lena nennen. Auf diesen Namen haben sie sich endlich geeinigt. Lena, mein kleiner Schatz, spricht sie in Gedanken mit ihr. Ich freue mich, wenn du bald bei uns bist. Jens kommt an diesem Tag früher nach Hause, denn sie sind am Abend zu einer Party eingeladen. Klara hat keine Lust und möchte zu Hause bleiben und es sich auf der Couch gemütlich machen, doch Jens überredet sie mitzukommen. Auf der Heimfahrt passiert es dann. Jens merkt zu spät, dass die Straße gefroren ist. Er fährt zu schnell und kommt ins Schleudern. Das Auto überschlägt sich und bleibt auf dem Dach an einem Baum liegen. Als Klara wieder zu sich kommt, liegt sie schwer verletzt im Krankenhaus. Jens hat Glück gehabt, er ist nur leicht verletzt. Klara aber hat ihr Kind verloren! Sie gibt Jens die ganze Schuld an dem Unglück. Er hat ihr Kind umgebracht! Das kann und will sie ihm niemals verzeihen. Daran zerbricht ihre Ehe.
Klara hat in den vielen Jahren nie darüber gesprochen, auch die Trauer hat sie nicht zugelassen. Nun kann sie endlich um ihr Kind weinen und trauern.
Die Tage vergehen und Klara geht es mit jedem Tag ein wenig besser.
»Marianne, soll ich die Medikamente absetzen? Was meinst du?«, fragt sie eines Tages.
»Das musst du selbst entscheiden. Du kannst die Tabletten schrittweise absetzen, aber sage mir dann bitte Bescheid.« Klara beginnt wieder zu malen. Oft sitzt sie stundenlang am See, schaut den majestätisch dahingleitenden Schwänen zu, beobachtet die Fischreiher, die auf einem Bein stehend, stundenlang mit ihrem Blick in die Ferne schweifen und freut sich an den Entenfamilien, die aufgeregt piepend ihre Runden drehen. Sie erfreut sich am hohen Schilfgras, das sich sachte im Wind wiegt und das im Sonnenlicht silbern glänzt. Die Natur lässt sie jede Menge Motive entdecken und es entstehen hübsche Blumenaquarelle und stimmungsvolle Landschaftsbilder in Acryl. Das Malen, die Ruhe und der Frieden, den der See mit seiner schönen Umgebung ihrer Seele schenkt, lassen sie mit jedem Tag mehr gesunden. Sie hat noch einen weiten Weg vor sich, das ist ihr mittlerweile klargeworden, denn in der Tiefe ihrer Seele ist ein Schmerz verborgen, der angeschaut und geheilt werden möchte, doch sie fühlt, dass sie auf einem guten Weg ist.
Mittlerweile sind drei Wochen vergangen. Klar geht es ohne ihre Medikamente gut. Sie ist aktiver und das nebelige Gefühl, wie sie zu Marianne sagt, sei weg. Manchmal träumt sie ihren üblichen Traum, aber er ängstigt sie nicht mehr. Marianne hat ihr erklärt, dass Träume aus dem Unbewussten aufsteigen können, um Botschaften zu vermitteln, um zu zeigen, dass vielleicht etwas im Leben nicht in Ordnung ist oder auch um Tageseinflüsse verarbeiten zu können.
Panikattacken hat sie hier keine mehr bekommen.
Sie sitzen sich unter dem Apfelbaum gegenüber und genießen seine schattige Kühle, denn der Sommer hat sich am Bodensee niedergelassen und Hitze mitgebracht. Marianne sieht Klara prüfend an.
»Ich denke, dass deine Zeit hier bald vorbei ist. Du hast deinen Schmerz um den Verlust deines Kindes endlich zugelassen und konntest darum trauern. Das ist ein Erfolg. Die Panikattacken und die Angstgefühle sind bisher nicht wiedergekommen und du hast gelernt, was du tun kannst, wenn die Angst wieder auftreten sollte. Doch ich habe bei dir den Eindruck gewonnen, dass du noch sehr viel Wut und Groll in dir trägst. Wenn du wirklich ganz gesund werden möchtest, dann solltest du Vergebungsarbeit leisten, bei deinen Eltern und bei deinem Mann. Ich könnte mir vorstellen, dass es gut wäre, wenn du dich auf die Suche nach deinem Vater begibst. Ich habe so ein Gefühl, dass das dir weiterhelfen könnte. Vielleicht bringt dir ein Gespräch mit ihm Klarheit und Erkenntnisse über deine Kindheit. Ich kann dir im Moment nicht mehr weiterhelfen, du musst nun allein weitergehen.«
Klara schaut Marianne bestürzt an.
»Aber wie soll ich ihn denn finden, ich weiß ja gar nicht, wo er lebt!«
»Wenn du ihn finden möchtest, dann wird sich zum richtigen Zeitpunkt eine Türe öffnen. Vertraue auf deine Führung.«
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