Vergebbar ist nur das Unvergebbare
Vergebung: keine verfügbare „Methode“
Darf ein Opfer überhaupt verzeihen?
Warum ist das Vergeben für die Opfer so schwierig?
Kann es Vergebung auch ohne die Bitte um Verzeihung geben?
Können andere stellvertretend vergeben?
Ist eine Rehabilitierung des Täters möglich?
Welche Einsichten können die Bereitschaft zu vergeben erhöhen?
Die Täterseite sitzt in uns allen
Die entlastenden Nachwirkungen bei denen, die Vergebung gewähren
Die Wirkungen des Vergebens bei denen, die Vergebung erhalten
13. Aufbruch zur Aufarbeitung – konkrete Schritte
Aufarbeitung in vier verschiedenen Kontexten
Den einzelnen Schmerzanteilen einen Namen geben
Kommunikationsräume öffnen und Vertrauen wagen
Trauer, Schmerz und Gefühle zulassen
Vorurteile entlarven
14. Plädoyer für ein Vergeben ohne Vergessen
Bedeutet Vergebung der Schuld automatisch auch Befreiung der Last?
Vertrauen wagen – unser Geschenk an nachfolgende Generationen
Zur Gedenkstätte für Flüchtlinge in Riehen (Schweiz)
Danksagung
Literaturverzeichnis
Glossar
Holocaust, Shoah
Holocaustüberlebender
Genozid
Trauma
Anhedonie
Zweite Generation
Geleitwort von Albrecht Fürst zu Castell-Castell
In sorgfältiger, gründlicher Weise hat Johannes Czwalina beschrieben, welche Auswirkung das Schweigen – ich will es zwanghaftes Verschweigen nennen – auf das ganze Leben eines Menschen hat. Das jüdische Volk hat in Europa entsetzliches Leid erlebt. Alle lebten in Angst, und es gibt kaum eine Familie, die von 1933 bis 1945 keine Ermordeten zu betrauern hat. Wer überlebt hat, ist oft lebenslang in seinem Wesen verändert und unfähig, über das Erlebte zu sprechen. Die meisten haben weggeschaut. Vermutungen wurden nicht hinterfragt, sondern verdrängt. Man wollte von den Verbrechen nichts wissen, und man hat geschwiegen. Die Frage der Schuld wurde verneint, schuldig waren nur die anderen. Jeder aber, der in der Nazizeit bereits erwachsen war, hat wohl etwas geahnt von Kriegsverbrechen, Judenverfolgung und Massenmord. Das ist unsere Geschichte, ein traurig-schauriger Abschnitt deutscher Geschichte.
Erst die Atmosphäre und die bildhaften Eindrücke bei Besuchen in Birkenau und Auschwitz haben mir die Augen geöffnet und schließlich auch mein Herz erreicht. Mir ist wie nie zuvor in meinem Leben bewusst geworden, dass auch ich ein Schuldiggewordener bin. Ratlos und Hilfe suchend habe ich diese Mitschuld in einem Beichtgespräch bekannt.
Denn Deutschland, in dessen Namen friedliche Länder überfallen und besetzt wurden und tausende unschuldiger Bürger jüdischen Glaubens ermordet wurden, ist mein Vaterland, für das ich als Soldat in den letzten Kriegsjahren im Einsatz war.
Ich vermute, dass viele Menschen in sich ein Geheimnis tragen, etwas, worüber sie nicht sprechen wollen. Das kann weit zurück liegen: eine Lüge, ein Betrug, eine Verleumdung, ein Missbrauch, eine Verletzung, ein Treuebruch oder auch ein Fluch, der irgendwann einmal ausgesprochen wurde. So gibt es mancherlei, was mit einer „Decke des Schweigens“ zugedeckt und im Verborgenen, in der Verschwiegenheit versteckt bleiben soll.
Ich wünsche allen, die „Das Schweigen redet“ lesen, Mut und Kraft, den Damm des Nichtredens einzureißen und die „Decke des Schweigens“ wegzuziehen.
Albrecht Fürst zu Castell-Castell
Castell, 2013
Der Buchhandel wird heute ständig mit neuem Stoff über das Dritte Reich versorgt. Das war bis in die Mitte der 1990er Jahre noch anders, als man in den Regalen bestenfalls einige Wälzer über die Architekten des deutschen Faschismus fand. Die zahlreichen, in den letzten Jahren oft von Laien geschriebenen Familien- und Schicksalsberichte aus der NS-Zeit markieren einen Wendepunkt in der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit. Der Einzelne, der sein Augenmerk auf Ereignisse legt, die die eigene Familiengeschichte geprägt haben, besticht durch den geschärften Blick der persönlichen Betroffenheit. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den Ausführungen von einigen zeitgenössischen Historikern, deren Professionalität sich in der Wahrung des emotionalen Abstands ausdrückt.
Geschichte ist etwas Flüssiges. Man kann ihr keine feste Form aufzwingen. Sie entwickelt sich weiter mit den Ereignissen, die von Generation zu Generation aus neuen Blickwinkeln gesehen werden. Das macht das Ringen um die Deutungshoheit so offen. Bereits Abgehaktes kann plötzlich wieder als offenes Thema im Raum stehen.
In mühsamer Kleinarbeit rekonstruieren Enkel und Urenkel die Biografien ihrer Groß- und Urgroßeltern. Und fast jeden Monat kommen neue Bücher hinzu.
Es scheint, als sei ein Damm des Schweigens gebrochen worden. Das Schweigen beginnt zu reden, immer lauter erhebt es seine Stimme. Und das ist gut so, denn nur dadurch kann ein umfassender Aufarbeitungsprozess in Gang kommen, den diese Welt heute mehr denn je braucht.
Wie kommt es, dass erst jetzt dieser Damm des Schweigens bröckelt? Nun, zum einen sicher, weil die Enkelgeneration viel unbefangener ist, und zum anderen, weil die letzten Zeitzeugen oft erst in weit vorgerücktem Alter bereit sind zu sprechen, wenn sie nämlich realisieren müssen, dass – bedingt durch einen Verfall ihrer Kräfte – die Mauer des Schweigens ihre vermeintliche Schutzfunktion nicht mehr erfüllen kann.
Der KZ-Überlebende Elie Wiesel formuliert es so:
Die Jugend macht den Unterschied aus. Die jungen Leute wollen heute wissen, was damals wirklich geschehen ist, … weil sie sich sagen, dass das die letzte Chance ist, einem Zeitzeugen zuhören zu können. Sie hören mit einer gesunden Neugier, mit ihren Seelen, mit ihren Blicken. Ich spreche sehr gerne mit jungen Leuten und beantworte ihre Fragen. Sie interessieren sich für unsere Erfahrungen, nehmen sie an und zeigen uns ihr Mitgefühl. Das berührt mich. Es ist einfacher, mit den Enkeln zu sprechen als mit den Söhnen.1
Die Generation, die in den letzten Jahren des Dritten Reichs und unmittelbar danach geboren wurde, hat erfahren müssen, wie die Eltern ihren Fragen über die Zeit des Nationalsozialismus auswichen. Im Geschichtsunterricht in den 1960er Jahren haben wir das Thema „Drittes Reich“ durchgearbeitet. Ich bin während meiner Kindheit und Jugend aber keinem einzigen Menschen begegnet, der sich als ehemaliger Nationalsozialist zu erkennen gab. Muss das nicht nachdenklich stimmen angesichts der Tatsache, dass es nur wenige Jahre vorher offiziell keinen gab, der kein Nationalsozialist war?
Durch dieses Schweigen der Eltern hat die Neugierde, die in der ersten Generation noch weitgehend unterdrückt werden konnte, in der zweiten und dritten Generation umso mehr zugenommen. Das Schweigen hat einige der Kinder zur Verzweiflung oder Resignation getrieben, andere in Rebellion und Wut: Keinem aber hat es das Aufklärungsbedürfnis nehmen können. Bei vielen der Kinder und Enkel entwickelte sich diese Wissbegierde zu einem dringenden Bedürfnis, bis sie endlich ihre Wurzeln ausgraben und den Nebelschleier des Schweigens der Vorfahren auflösen konnten. Sie wollten wissen, woher sie kommen und was sie ausmacht. Sie spürten, dass sie an ihr Innerstes herankommen müssen, um sich selbst zu verstehen.
Dieses – aus heutiger Sich selbstverständliche – Recht haben viele Kinder der ersten Generation – die Kinder der Täter und Opfer – nicht wahrnehmen können. Sie wuchsen in einer Wolke des Schweigens auf und bemerkten oft erst im fortgeschrittenen Alter, welche Hypothek ihnen dadurch auferlegt wurde. Je länger sie mit der Aufarbeitung warteten, desto dringlicher meldete sich das Begehren nach Transparenz. Nicht immer heilt die Zeit alle Wunden. Verschwiegenes bleibt in uns wirksam, auch wenn es für lange Zeit verdrängt werden kann.
Читать дальше