Als ich an der Reihe war und ein Exemplar zur Registrierung auf den Tisch legte, schaute eine junge Dame interessiert an mir vorbei auf meine ausgesuchten Titel. Fragend und lächelnd sagte sie: „Sieh mal da. Alles Erziehung. Ist das denn noch in ?“
Ich fragte zurück: „Halten Sie denn Erziehung nicht mehr für notwendig?“
Sie sagte etwas schnippisch: „Ich halte alles Autoritäre für überflüssig.“
Ich fragte: „Und die Autorität, was halten Sie davon?“ Sie sagte: „Ich sehe zwischen den beiden keinen Unterschied, Sie etwa?“
Die junge Dame bemerkte mein Erstaunen und ich reagierte so: „Darf ich Sie fragen, wie heißt denn das Eigenschaftswort von Autorität?“
Spontan kam es von ihr: „Autoritär.“
Und ich entgegnete: „Leider stimmt das nicht. Das Eigenschaftswort von Autorität heißt autoritativ .“ Die junge Dame zog die Stirn kraus und schüttelte ihren Kopf.
Als wir hinausgingen, fragte ich sie nach ihrem Beruf, und sie sagte: „Ich studiere Soziologie im 5. Semester.“ Das ist kein Einzelfall. Aus Neugier stelle ich heute gern die Frage nach dem Eigenschaftswort von Autorität vor jungen Erwachsenen und älteren Menschen. Das Ergebnis ist häufig das gleiche. Sie glauben, dass das richtige Eigenschaftswort von Autorität autoritär lautet. Es unterliegt keinem Zweifel, die antiautoritäre Bewegung, die in den 60er Jahren begann, hat den positiven Begriff von Autorität zum Verschwinden gebracht. Ist es ein Wunder, wenn unsere Erziehung bei vielen orientierungslos verläuft?
Das Wort „Autorität“ stammt aus der römischen Antike. Ihre Kultur lebte aus der Überlieferung. Die Alten mit ihrem Brauchtum, ihrer Sitte und ihrem Ethos bestimmten den Alltag. Der Träger der Autorität war in erster Linie der Senat. Er bestand vorwiegend aus Männern über 60 Jahren. Sie hatten weithin ein vorbildliches Leben hinter sich und wurden zu Garanten der Zukunft. Sie hatten sich bewährt und wurden daher geachtet. Alte, die sich nicht bewährten, und Versager konnten abgewählt werden. Der Senat, der Rat der Alten, nahm zu allen Fragen Stellung und gab nach eingehender Diskussion seine Stellungnahme ab. Sie wurde nicht mit Polizeigewalt durchgesetzt. Es waren in erster Linie Ratschläge und keine Befehle, Empfehlungen und keine strikten Anordnungen.
Dieser Senat besaß Autorität, nicht weil ihm die Befehlsgewalt gegeben war, sondern weil man den alten, den besonnenen und bewährten Männern vertraute, ihre Entscheidungen achtete und ihre Ratschläge akzeptierte.
Die Autorität der Alten musste durch Leistung nachgewiesen werden. Wer Erfolg mit militärischen oder politischen Unternehmungen hatte, besaß Autorität. Im Gerichtswesen war es ähnlich. Wer sachverständig, aber auch geschickt und erfolgreich das römische Recht anwenden konnte, besaß Autorität, besaß das Vertrauen einer Mehrheit. Er wurde häufiger frequentiert als andere.
Dass dieses Modell echter Autorität idealtypisch geschildert ist, liegt auf der Hand. Aber es war ein Modell von Autorität, das man gutheißen konnte und kann. Es war ein Modell, das die entscheidenden Züge positiver Autorität widerspiegelt, die auch heute noch gelten. Ein Befehl muss ausgeführt werden, er wendet sich an Untertanen und willig Gehorchende. Ein Rat will die Entscheidungsfreiheit nicht schmälern. Ein Rat will die Einsicht in die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Folgen der Entscheidung fördern. Die Alten, also der Senat, besaßen „auctoritas“ = Autorität, ohne auf Macht und Gewalt angewiesen zu sein. Die Bürger Roms unterwarfen sich freiwillig. Sie vertrauten der selbstlosen Überlegung und damit der Überlegenheit der Alten.
Das positive Konzept von Autorität
Zwischen den Extremen autoritär und antiautoritär wurde die positive Autorität zerrieben.
Wirkliche Autorität hat nichts mit einem autoritären Verhalten zu tun. Autorität wird abgeleitet von „auctor“ = der Urheber, der Anstifter, der Mahner, der Förderer, das Vorbild. Es ist bezeichnend, dass es lange eine Schreibweise gab, die
„Auktorität“ bevorzugte.
Das Wort „auctoritas“ bedeutet: Vollmacht, Einfluss, Gewicht, Vertrauensmacht.
Der Auktor, der Urheber, ist also derjenige,
der das Leben mehrt;
der dem Leben Gewicht verleiht;
der das Leben bereichert;
der das Leben fördert;
der das Denken und Handeln unterstützt;
der neue Ideen reifen lässt;
der ein Vorbild für Leben und Verhalten ist.
Wer Autorität besitzt,
hat innere Überzeugungskraft;
kann von innen her führen;
kann Vertrauen schenken.
Autorität hängt mit dem lateinischen „augere“ zusammen und meint: fördern, mehren, wachsen lassen, entfalten lassen.
Wer also Autorität besitzt,
ist ein Förderer, ein Mehrer;
ist ein Entfalter, ist Entwicklungshelfer im besten Sinne des Wortes.
Der Autoritätsbegriff hat zahlreiche Beziehungen zu anderen Begriffen wie: Vorbild, Ansehen, Achtung, Respekt, Ehrfurcht und Vollmacht. In den Erziehungs- und Sozialwissenschaften besteht Einigkeit darüber, dass Autorität nicht in erster Linie eine Eigenschaft von Personen ist, sondern die Qualität einer sozialen Beziehung beinhaltet. Autorität wird den Personen zugeschrieben, die einen Einfluss oder einen Führungsanspruch geltend machen, der als berechtigt von anderen Menschen anerkannt wird.
Die so genannten Autoritätsabhängigen verpflichten sich freiwillig, ohne Strafandrohung, aufgrund von Vertrauen und Treue zu gehorchen. Diese Autoritätsabhängigen werden aber auch den Gehorsam verweigern, wenn die Autoritätsinhaber ihre Kompetenz überschreiten. Autoritätsabhängige Menschen schenken der Autoritätsperson Respekt, solange sie
durch Beispiel,
durch Vorbild,
durch Kompetenz,
durch rationalen Diskurs und
durch partnerschaftliche Kommunikation
das Vertrauen des abhängigen Menschen gewinnt.
Die Überredung, die Manipulation und die Suggestion werden als autoritäre Verhaltens- und Einstellungsmuster abgelehnt.
Autorität - eine Kategorisierung
In der Philosophie wird die Frage gestellt: „Zu welcher Kategorie gehört eigentlich der Begriff Autorität?“ Kategorien gibt es grundsätzlich drei: Dinge , Eigenschaften und Beziehungen .
Ein Schuh ist ein Ding, auch eine Person ist ein Ding. Aber ihnen haften Eigenschaften an. Wir können sagen:
„Der Vater ist unwahrscheinlich stark .“
„Die Mutter ist sehr liebesfähig .“
„Das Kind ist gehorsam .“
„Der Lehrer ist sehr streng .“
Man kann also die Autorität als Ding und als Eigenschaft definieren. Viele Eigenschaften deuten aber auch eine Beziehung an. Alle vier genannten Aussagen über Vater und Mutter, das Kind und den Lehrer beinhalten auch eine Beziehungsebene. Denn der starke Vater ist gegenüber Kindern, der Ehepartnerin und anderen Männern stark. Die liebenswürdige Mutter gilt in Beziehungen zu anderen Menschen als liebenswürdig. Auch das Kind spiegelt Gehorsam gegenüber anderen Personen wider. Der strenge Lehrer besitzt eine klar umrissene Eigenschaft und drückt gleichzeitig in Beziehungen eine bestimmte Haltung aus.
Genauso ergeht es dem Wort „Autorität“. Wie wir es auch benutzen: Es spiegelt eine Eigenschaft und eine Beziehung wider.
Ein Lehrer kann Autorität besitzen,
… weil er sich durchsetzt;
… weil die Schüler auf ihn hören;
… weil die Schüler ihn respektieren;
… weil er für Disziplin und Ordnung sorgt.
Und ein Lehrer kann Autorität besitzen,
… weil er etwas zu sagen hat;
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